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Donnerstag, 26. September 2019

38 Argumente für Inklusion

Es gibt Seiten im Internet, die sind wahre Schätze. Ein solcher Schatz findet sich unter  Inklusionsfakten.de wieder. Lisa Reimann heißt die Autorin. Auf ihrer Homepage setzt sie sich sukzessive mit 38 Vorurteilen gegen Inklusion auseinander, indem sie ihnen 38 wissenschaftlich untermauerten Statements  gegenüberstellt. Das Ergebnis ist ermutigend und sicherlich für so manche Diskussion im Kollegium recht dienlich.

Bildquelle: www.inklusionsfakten.de 








Sonntag, 17. Februar 2019

Die Angst vor dem Verlust von Privilegien

Die Angst vor Neuem geht oftmals einher mit dem Wunsch, Bestehendes zu bewahren - Status, Privilegien, Pfründe. Nicht selten wird zur Sicherung des eigenen Vorteils diese Angst gar selbst geschürt. Geschichtlich kein seltenes Phänomen. Und noch zwei weitere Muster konservativen  (conservare = erhalten, konservieren) Denkens lassen sich finden.

Muster 1: Gefahr heraufbeschwören
    • Die nichtbehinderten Kinder werden durch den gemeinsamen Unterricht benachteiligt.
    • Die Teilhabe des Weibes an der Politik wird unweigerlich zur Verweichlichung der Gesellschaft führen.
    • Wenn der Neger nicht niedere Arbeiten macht, für die er prädestiniert ist, so kann der Weiße auch nicht für Fortschritt, Zivilisation und Kultiviertheit sorgen.
    Muster 2: Bevormunden (Wissen, was für den anderen das Beste ist.)
    • Schüler/Schülerinnen mit Behinderung lernen besser an einer Förderschule.
    • Aufgrund ihrer Charaktermerkmale gehört das Weib hinter den Herd und nicht in die Politik.
    • Der Neger ist aufgrund seines mangelnden Intellekts sowie seiner an die Bedingungen Afrikas angepassten Physis bestens geeignet zur Plantagenarbeit.
    Muster 3: Eingeschränktes Bejahen
      • Inklusion ist schön, aber bitte nicht auf Gymnasien.
      • Freie Wahlen für Frauen sind gut, aber bitte nur auf regionaler Ebene.
      • Die Abschaffung der Sklaverei ist zu befürworten, aber bitte nur in Regionen ohne Plantagen.

      Wenn nun eine Bremer Schulleiterin gegen Inklusion klagt, so stellt sich die Frage, was versucht diese Schulleiterin da auf Teufel komm raus zu bewahren? 
      Man stelle sich einmal vor, man würde gegen das Wahlrecht von Frauen klagen oder dafür plädieren, Artikel 3 des Grundgesetztes (Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.) für farbige Menschen auszusetzen. Wäre das nicht absurd? Oder einfach nur chauvinistisch bzw. rassistisch? Wäre nicht klar, wer da was zu bewahren versuchte?
      Aber kann man das mit dem oben genannten Fall überhaupt vergleichen? Ich denke ja, denn  Inklusion ist kein Almosen, es ist von Deutschland ratifiziertes Recht (siehe UN-Konvention Artikel 24).
      Wie ist de Klage der Bremer Schulleiterin, die nicht ausreichendes Lerntempo der SchülerInnen mit Behinderung als Hauptargument ihrer Klage anführt, nun also zu werten?
      Kann es sein, dass das, was diese Schulleiterin da zu bewahren versucht, nichts Geringeres als die Schulform des Gymnasiums ist? Und falls dem so ist, welche Privilegien sind dieser Schulform eigen? Was macht das Gymnasium so ex-klusiv? Und passt diese Schulform als solche überhaupt noch in unsere Zeit?

      Ich werde diesen Fragen in einem gesonderten Blogbeitrag nachgehen.

      Freitag, 29. Dezember 2017

      Zeit - muss sein!

      Wir Lehrer besitzen einen wunderbaren Schatz. Einen Schatz, den es durch uns zu bergen gilt. Sein Name ist ZEIT und er ist gigantisch groß.

      Zur Veranschaulichung seiner Dimension, möchte ich mich kurz auf meine momentane Klasse beziehen.
      Pro Woche haben die SchülerInnen dieser 8.Klasse 36 Unterrichtsstunden (a 45´) verteilt über fünf Wochentage. Berechnen wir ein Schuljahr abzüglich der Ferien mit ca. 190 Schultagen, so kommen wir auf 1368 Schulstunden (36h/5d*190d) bzw. 1026 Zeitstunden (1368h*3/4). Das sind fast 43 volle Tage Unterrichtszeit pro Schuljahr.
      Hinzu kommen die Pausen. Sie ergeben weitere 100 Minuten pro Unterrichtstag, also mehr als 300 Zeitstunde bzw. 13 weitere volle Tage pro Schuljahr.

      Nochmal, weil wir uns des Schatzes ganz klar und sehr bewusst sein müssen. Ein 8.Klässler verbringt:
      • 1000 Zeitstunden Unterricht 
      • 300 Zeitstunden Pause 
      • also 56 volle Tage 
      pro Schuljahr in der Schule. Wow!

      Bei so viel Zeit müsste man meinen, Schule sei ein Ort des Innehaltens, des Verweilens, des sich Besinnens. Ähnlich vielleicht wie ein Kloster. Kontemplativ. Produktiv. Bildend.
      Doch weit gefehlt. Wohin auch immer und durch wessen Augen auch immer man blickt, es herrscht flächendeckend Zeitnot sowie flächendeckender Zeitdruck. Nirgends rast die Zeit dahin wie in Schule.

      Wie passt das zusammen? Wodurch lässt sich das erklären?

      Statt unseren Schatz in seiner ganzen Schönheit und Dimension zu bergen, d.h. ihn pädagogisch fruchtbar werden zu lassen, zerstückeln wir ihn bis aufs Messer. Derart präsentiert er sich nicht als das was er sein könnte. Vielmehr verkommt er zur Geißel, statt als Quelle von Muße und Kreativität in Erscheinung zu treten. Er hetzt uns in seiner Zerfetztheit tausendfach vor sich her, statt durch seine bloße Dimension zu beruhigen. Er zerreibt uns in seiner Flüchtigkeit, denn trotz seiner einstigen Größe sind die von uns geschaffenen Einzelteile nie und niemandem je genug.
      "Bis aufs Messer zerstückeln", dass heißt auch bis zur Unkenntlichkeit zerstören. Wir Lehrer - so meine These - haben die zeitliche Dimension, als eine wesentliche Dimension pädagogischen Handelns, völlig aus dem Blick verloren. Wir erkennen schlichtweg nicht mehr, was da Gewaltiges zu unseren Füßen liegt. 1000 Zeitstunden pro Schuljahr. 1000 Zeitstunden Unterricht.

      Was ist zu tun?

      Es ist danach zu fragen, wie wir der Zerstückelung von Zeit entgegenwirken bzw. wie wir die einzelnen Zeitfragmente wieder zusammenbringen können. Wir sollten meines Erachtens...
      • ...Fächer abschaffen. 
      • ...eine neue Rhythmisierung wagen. 
      • ...starre Raumkonzepte überwinden. 
      • ...Teamwork stärken. 
      • ...Noten abschaffen. 
      • ...die Schule vom Ende her denken. 

      Fächer abschaffen
      Die moderne bürgerliche Gesellschaft ist in hohem Maße spezialisiert. Bis hin zu uns LehrerInnen. Die meisten von uns nehmen sich deshalb auch ganz schlussfolgerichtig nicht vordergründig als PädagogInnen, sondern vielmehr als Mathe-, Englisch-, GeschichtslehrerIn usw. wahr. Jeder von uns pocht auf sein/ihr Fach. Seine/ihre Expertise. So zerstückeln wir die Zeit. 90 Minuten bekommt Englisch, 90 Minuten Mathe, 45 Minuten Sport, 45 Minuten Französisch. Tagein, tagaus. Vollkommene W-irre.
      Da wir die Zeit zerstückeln, erhält die einzelne Unterrichtsstunde einen nahezu existentiellen Charakter. Die gesamte Zeit in ihr verdichtet sich aufs Äußerste. Die Stunde wird derart unglaublich ge-wichtig. Von den drei Hauptzeitformen beginnt die bloße Gegenwart zu dominieren. Hier und jetzt gleich muss es gelingen, muss etwas gelingen, muss Unterricht gelingen, muss jeder gelingen. Denn ich mit meinem Fach, in Kombination mit der Lerngruppe, wir sind ja erst wieder am nächsten Tag oder in der nächsten Woche dran, mit 45 oder - wenn wir Glück haben - mit 90 Minuten Unterricht. "Es muss gelingen" steht in krassem Widerspruch zum Lernen an sich. Lernen ist ja ganz wesensmäßig geprägt von trial and error, Versuch und Irrtum. D.h. einem Auf und Ab in der Zeit, durch die Zeit, mit der Zeit. Mit Zeit.
      Es gilt die Fächer über Bord zu werfen. Stattdessen wäre Projektunterricht wünschenswert. Mehrere Wochen an einem Thema in seiner ganzen multiperspektivischen Breite. Produktorientiert. Problemlösend. Haptisch. Auditiv. Kreativ. Ja sogar exkursiv. Zudem emotional. Sozial. Interaktiv. Vielleicht ein sinnliches Feuerwerk? Ist in 45 Minuten sinnlicher Unterricht überhaupt möglich? Gibt es LehrerInnen da draußen, die das schaffen? Gibt es vielleicht sogar einen Zusammenhang zwischen dem Unterrichten in Fächern und dem inflationären Verwenden von Arbeitsblättern, als gäbe es daneben kein anderes brauchbares Arbeitsmittel um sich ein Thema zu erschließen? Wirkt sich Zeitverknappung durch fächerbedingte Zeitfragmentierung vielleicht sogar bis hin zur (einseitigen) Wahl unserer Lern- und Arbeitsmittel aus?
      Letzte Woche erzählte mir eine Kollegin, dass sie im Englischunterricht "Wüsten" thematisierte. Wüsten! Ein klassisches Erdkundethema. Zähneknirschend dachte ich daran, dass wir eine fächerübergreifende Zusammenarbeit versäumt hatten. Dieses Beispiel weist auf einen unglaublichen, selbstverschuldeten (Ich greife mir da ganz selbstkritisch an die eigenen Nase) Zustand in Schulen hin, nämlich den, dass es zwischen den Fächern kaum Abstimmung gibt. 1000 Zeitstunden und (fast) keine Abstimmung! Es weist darüber hinaus aber auch auf einen anderen Umstand, nämlich den, dass ein Zusammenführen von Fächern zu Projektmodulen durchaus im Bereich des Möglichen liegen sollte. Darauf deutet übrigens auch der Berliner Senat hin, Schulgesetz Paragraf 12.

      Eine neue Rhythmisierung wagen
      90 Minuten heute, 45 Minuten übermorgen. Wer arbeitet so an einer Sache, erst recht, wenn sie ihn interessiert? Ich jedenfalls schreibe diesen Blog hier nicht zwei Mal die Woche a´45 Minuten. Ich brächte es derart zu nichts Substanziellem. Genau genommen vielleicht sogar zu Nichts. Geht es anderen anders? Und lässt sich Lernmotivation tatsächlich im Rhythmus von 45-90´ stets immer und immer wieder aufbauen?
      "Die SchülerInnen hatten mal wieder keinen Bock. Wirklich! Keiner. Die wollten noch nicht mal..." Hm. Geht den SchülerInnen im Gewirr der Fächer vielleicht auch ein Stück Sinnhaftigkeit ihres Tuns verloren? Projekte zeichnen sich ja durch ein von Anfang an transparent seiendes Ziel aus. Was aber war noch mal das Ziel von Stunde X,Y am Tag 3 der Woche?
      Seit ich Schule kennen, d.h. inklusive meiner eigenen Schulzeit, bewegt sie sich im 45´-Takt. Wie Zeitlemminge folgen wir dem tradierten Zeitmuster. Unfähig einen anderen Rhythmus zu wählen. 45 Minuten? Ja, war immer schon so! Der Fairness halber muss man jedoch sagen, dass Bewegung in die Sache kommt. Immer mehr Schulen wählen 90 Minuten-Blöcke, manchen experimentieren mit 60Minuten-Stunden, andere wählen sich täglich wiederholende Zeitbänder über die gesamte Woche. Gut so. Bleibt festzuhalten: Schaffe ich die Fächer ab, habe ich alle Freiheiten eine neue Rhythmisierung zu wagen.

      Starre Raumkonzepte überwinden
      Die Räume in Schule sind meist entweder Fächern (Fachräume) oder Klassen (Klassenräume) zugeordnet. Beide Räume sind zugleich auch die bevorzugten Lernräume. Man könnte auch sagen, in ihnen findet in den meisten Schulen 95% des Lernens statt. So wie wir die Zeit bis zur Unkenntlichkeit zerstückeln, begrenzen wir den Raum auf ein lächerliches Maß. Beides läuft auf Ähnliches hinaus. Wir nehmen weder die Zeit, noch den Raum in deren ganzer uns zur Verfügung stehenden Dimension war. Flure, Theater, Museen, Bibliotheken, Schulgarten, das Ausland, das Inland, die Aula, der Keller, die Schulküche, der Schulhof, die Tanzschulen, die Innungen, das Altersheim, das Fußballstadion, das OSZ, der Handballverein, der Kiez, der Jugendclub - all das wird von Schulen als Lernort genutzt. Zu 5%!
      Es gibt einen Zusammenhang zwischen Raum und Zeit. Zerstückle ich die Zeit, so fehlt sie mir für Wege, für Begegnungen, für Besuche, für das Ex-Plorieren, die Ex-Kursion. Räumliche Begrenzung scheint mir eine Folge zeitlicher Zerstückelung. Unterrichtete ich fächerübergreifend in Projekten, in Rhythmen von Projekten, was ergäbe das für Chancen dasjenige kennenzulernen, was außerhalb dessen liegt was der eigene Fach- und Klassenraum ist?
      Bleibt die Frage, ob es auch andersherum ginge? Erst den Raum in den pädagogischen Fokus nehmen (siehe meine Blogbeiträge zum Raum) und dann sehen, was er mit der Zeit anstellt? Würde eine konzeptionelle Entgrenzung und Ausdehnung des Lernraumes eine Zusammenfügung von Zeitfragmenten zur Folge haben? Eine Schule, die nach Außen strebt, die räumlich über die eigenen Mauern hinweg denkt, müsste sie nicht zwangsläufig das tradierte Zeitkorsett sprengen (wollen müssen)?

      Teamwork stärken
      Wenn wir Fächer auflösten, würde sich die Frage nach dem Teamwork noch einmal ganz neu stellen. Es wäre dann evident, dass die einzelnen FachlehrerInnen die jeweiligen Projekte nur im Team sinnvoll entwickeln könnten, um einer Multiperspektivität, Ganzheitlichkeit, Interdisziplinarität sowie dem Rahmenlehrplan zu entsprechen.
      Aber selbst wenn wir den Fachunterricht beibehielten, spräche einiges dafür Teamwork zu stärken. Zwei Beispiele.
      • Deutsch- und meist auch FremdsprachenlehrerInnen sind in der Wahl ihrer Inhalte sehr frei. Ob sie das Schreiben eines Berichtes oder das Wesentliche einer grammatikalischen Regel anhand Thema X oder Y üben, spielt meist eine untergeordnete Rolle. Es geht vordergründig um das Berichtschreiben bzw. die Grammatik. Das eröffnet die Möglichkeit mit diesen LehrerInnen ein Team zu bilden und trotz Unterrichtens in Fächern über die Fächer hinweg projekthaft zu arbeiten. Warum sollte die grammatikalische Regel (Deutsch) nicht anhand eines Textes über Kinderarbeit (Ethik) geübt werden? Oder der Bericht über den Besuch in der Troposphäre Potsdam zum Thema Besuch eines Regenwaldes (Erdkunde) geschrieben werden? Eine methodische Vertiefung über Fächer hinweg wäre ebenso denkbar und bräuchte Absprachen, also Teamwork. Man würde also der Zerstückelung der Zeit durch das Erschaffen von Fächern, mittels eines Verwebens von Inhalten über die Fächer hinweg entgegenwirken. Zeitfragmente zusammenweben. Hierfür bedürfte es Teamwork. 
      • Eine Unterrichtsstunde bedeutet für uns LehrerInnen stets auch Vorbereitungszeit. Auch diese Zeit ist stark zerstückelt. Wir sitzen meist nicht einmal in der Woche und planen unseren Unterricht auf lange Sicht für einen längeren Zeitraum, sondern sehr oft sitzen wir am Vortag, um die Unterrichtsstunden des Folgetage vorzubereiten. Wir wissen seit den Tagen unserer Ausbildung, dass das alles andere als optimal ist, tun es aber dennoch, weil uns oftmals die Zeit fehlt. Was wäre, wenn wir Unterrichtseinheiten im Team entwickeln würden? Was wäre, wenn wir unsere Unterrichtseinheiten auf eine Plattform im Internet laden würden, so dass sie jedem Kollegen und jeder Kollegin zugänglich wären? Was wäre, wenn wir die Unterrichtseinheiten auf besagten Plattformen stets weiterentwickeln würden? Würden wir Zeit gewinnen? Würden wir die eventuell gewonnen Zeit dafür verwenden können, um unsere Einzelstunden inhaltlich und methodisch tiefergehend miteinander zu verweben, so dass die Unterrichtsreihe zu einem ansehnlichen Stoff wird? Wäre der nächste Schritt einer solchen Teamarbeit nicht folgerichtig das Denkenwollen in Projekten? Würde dies womöglich die Tür zum Abschaffen der Fächer in breiten Teilen des Kollegiums öffnen? 

      Noten abschaffen
      Noten und Zeit? Wo ist da der Zusammenhang? In meinem Beitrag "Noten? Bitte frühestens ab 9.Klasse III" habe ich versucht ihn offen zu legen.

      Die Schule vom Ende her denken
      Unter dem oben stehenden Punkt "Fächer abschaffen" habe ich geschrieben, dass die Einzelstunden im herkömmlichen Fachunterricht existentiellen Charakter erhalten, dass sich die Zeit auf die Gegenwart verdichtet und die einzelnen Unterrichtsstunden derart unbedingt gelingen müssen. Diesen Fixpunkt Gegenwart müssen wir als PädagogInnen meines Erachtens unbedingt verlassen. Unseren Schatz, die Zeit, gilt es in seiner vollen Gänze zu erfassen und zu denken. Es ist ein sich-Bewusstmachen seiner Größer. Also ein aktiver Prozess, in den wir uns stets begeben und zwingen müssen. Nicht die eine Stunde ist entscheidend. Sie ist ein Maßstab für Nichts. In der Realität aber gewichten wir sie hoch und messen an ihr so vieles. Wir urteilen manchmal nach einer einzigen Stunde über die SchülerInnen, als würde uns diese einzelne Stunde ihren ganzen Charakter und ihre ganzen (Un)Fähigkeiten offenlegen. Dem ist nicht so.
      Meine 8.Klasse wird die Schule 2020 verlassen. Dann waren die SchülerInnen vier Jahre an unserer Schule. 4000 Unterrichtsstunden lang. Gibt es SchülerInnen, die sich in dieser Zeit nicht entwickeln könnten? Nein, die kann und wird es niemals geben. Jeder Schüler und jede SchülerIn hat Potential, hat Fähigkeiten, Hoffnungen, Wünsche, Träume, Bedürfnisse, Zerbrechliches, Verborgenes in und an sich. Eine Unterrichtsstunde, die existentiellen Charakter hat, erzeugt u.U. gehörigen Druck. Auf beiden Seiten. Ich glaube nicht daran, dass unsere SchülerInnen ähnlich wie HochleistungssportlerInnen diesen Druck benötigen, um ihr ganzes Potential abzurufen und zu entwickeln, um als Mensch die eigenen Hoffnungen, Wünsche, Träume, Bedürfnisse, das Zerbrechliche und das Verborgene zu ergründen. Geben wir unseren SchülerInnen die Zeit, die sie haben. Nicht 45 Minuten. Nicht 90 Minuten. Tausende Stunden Zeit sich zu entwickeln. Das muss der Fokus sein. In jeder einzelnen, vereinzelten und zerstückelten Zeiteinheit.



















      Bildquelle: 


      Donnerstag, 27. Juli 2017

      Noten? Bitte frühestens ab Klasse 9. (Teil I).

      Acht Fakten, die man in diversen Medien nachlesen kann, lassen aufhören!

      A) Ein Freiburger Student bekommt zwei verschiedenen Noten für exakt die gleiche Hausarbeit.
      Einmal 5 Punkte - also gerade so bestanden - und einmal 9 Punkte, also "befriedigend" (Spiegel Online 2017).

      B) Jungen bekommen in allen Fächern bei gleicher Kompetenz schlechtere Noten als ihre Mitschülerinnen - sagt eine neue Studie des Aktionsrates Bildung und bestätigt damit ein Ergebnis, zu dem auch eine Untersuchung des Bundesbildungsministeriums gekommen ist (Spiegel  Online 2009).

      C) Kinder mit Namen Kevin, Justin, Mandy oder Chantal werden von LehrerInnen mit hoher Wahrscheinlichkeit benachteiligt (Tagesspiegel 2009).

      D) "Ich benote nach Sympathie", gesteht eine Lehrerin ganz offen und begründet das auf interessante Art und Weise (Spiegel Online 2014).

      E) SchülerInnen aus bildungsfernen Familien bekommen bei gleicher Leistung häufig schlechtere Noten als SchülerInnen höherer Schichten (Tagesspiegel 2012).

      F) Die Noten eines Kindes hängen häufig davon ab, in welcher Klasse es zufällig gelandet ist (Süddeutsche Zeitung 2012).

      G) Unser Bildungssystem erzwingt, dass es SchülerInnen mit schlechten Noten geben MUSS (Süddeutsche Zeitung 2012).

      H) Noten sind defizitorientiert (Welt 2017).

      Wenn man über diese acht Headlines hinaus die Artikel liest, dann ließe sich zusammenfassend sagen: Noten sind ungerecht und der Entwicklung junger Menschen abträglich.
      Doch warum halten wir dann noch immer so starr an Noten fest? 
      Zwei Thesen seien hier gewagt:
      1. Um SchülerInnen - im Wechselspiel mit den Eltern - zu disziplinieren. 
      2. Um dem Grundcharakter unseres Schulsystems Rechnung zu tragen - der Selektion.
      Ich will diese zwei Thesen hier nicht untermauern. Stattdessen möchte ich - ihre Stimmigkeit voraussetzend - festhalten, dass beide Gründe auf einen Sachverhalt hinweisen, der uns stark zu denken geben sollte: Noten sind nicht im Sinne der SchülerInnen gemacht.

      Ich möchte das etwas am Beispiel der Inklusion vertiefen.

      Im Grunde haben wir LehrerInnen drei Möglichkeiten zu zensieren.
      a) Nach der Leistungsnorm.
      Hochsprung in der Schule. SchülerInnen, egal ob groß oder klein, schwer oder leicht, aus Elternhäusern mit hohem oder niedrigem Bewegungsangebot, müssen in die Höhe springen. Benotet wird nach meist schulübergreifenden, manchmal bundesweit geltenden Leistungsnormen. Einsehbar auf der Tabelle in den Händen des/der jeweiligen SportlehrerIn. Note 4? Mindestens 1,10m. Für wen? Für jeden gleich, also für ALLE. 
      b) Nach der Sozialnorm.
      24 Schülerprodukte liegen auf dem Tisch. Der Lehrer schaut alle Produkte durch und bildet schließlich drei Stapel: links die am besten gelungenen, rechts die am wenigsten überzeugenden und in der Mitte die Produkte einer gewissen Mittelmäßigkeit. Die Noten für die Produkte werden nach der Sozialnorm gebildet, d.h. nach der jeweiligen Abweichung vom Klassendurchschnitt. 
      c) Nach der Individuellen "Norm".
      Ein Schüler mit großen Lernschwierigkeiten hat in einer Stunde aus einer Liste mit 10 Vokabeln sich vier merken können. In jedem normalen Test hätte er für dieses Ergebnis die Note 5+ bekommen (40% = 3 Notenpunkte). Dieser Schüler konnte sich bisher aber stets nicht mehr als zwei Vokabeln merken, hat sich in seiner Leistung also geradezu um das Doppelte gesteigert. Der Lehrer gibt dem Schüler deshalb eine gute Note. Er honoriert damit den Fleiß und die - für den Schüler - regelrecht außergewöhnliche Leistung. 

      Man stelle sich vor, man hat eine Schülerin mit geistiger Behinderung in der Klasse, hinzu noch einen körperlich behinderten Schüler sowie drei SchülerInnen mit Förderstatus Lernen. Welcher der drei Möglichkeiten zur Leistungsbewertung wird diesen SchülerInnen am ehesten gerecht? Welche Möglichkeit gibt am meisten Motivation? Welche beschämt am wenigsten? Und welche erfasst am besten, was der/die jeweilige Schüler/in tatsächlich geleistet hat? 
      Diese SchülerInnen werden im deutschen Bildungssystem zwar nach gesonderten Maßstäben zensiert, sie machen aber am besten deutlich, wie hinderlich, ja fast schon absurd, die ersten beiden Bewertungsmöglichkeiten wären, denn diese SchülerInnen würden - bis auf wenige Ausnahmen - IMMER zu den VerliererInnen gehören. Man denke sich nun die Gruppe der leistungsschwächeren SchülerInnen aufgrund bildungsferner, sozial schwierigster Elternhäusern hinzu. Wird unser tradiertes Bewertungssystem diesen SchülerInnen gerechter? Drängt sich die Frage auf, wer eigentlich die Gewinner dieses Systems sind. Nichtbehinderte Kinder aus dem Bildungsbürgertum! Man fühlt sich an BORDIEU und den Begriff des kulturellen Kapitals erinnert...
      Bleibt die Leistungsbewertung nach der Individuellen Norm. Hier drängt sich eine andere Frage auf: Wenn ich mich auf die individuelle Leistungsentwicklung eines Kindes beziehe, warum sollte ich diese Entwicklung ausgerechnet mittels einer Note festhalten wollen? Warum Noten? Die individuelle Leistung steht ja v.a. erst einmal für sich. Kein Zwang zum Vergleich, lediglich im Sinne des eigenen Entwicklungsprozesses. Statt Noten könnte man dann tatsächlich auch Farben verteilen (siehe Blogeintrag "Farbe bekennen")

      Noten sind ungerecht! Einige Berliner Schulen haben das erkannt und sich vernetzt. Sie gehen einen neuen, einen anderen Weg. Bis zur neunten Klasse verzichten sie auf Noten. Zusammen wollen sie ein einheitliches Konzept der Leistungsbewertung erarbeiten, das auch von anderen Schulen als Alternative zum derzeitigen Noten- und Punktesystem anerkannt wird. Der stellvertretende Vorsitzender des Berliner Verbands der Gesamtschulen (GGG) gibt diesbezüglich ein bemerkenswertes Interview.  

      Ein wesentlicher Punkt wird in der Debatte um Noten meines Erachtens jedoch nicht bedacht:
      Wenn wir Noten - als Hilfsmittel einer effizienten Selektion ablehnen - warum sollten wir dann an Gymnasien - als Aushängeschild eben jener Leistungsselektion - so unnachgiebig festhalten?

      Donnerstag, 6. April 2017

      Gute Schule.

      "Was ist eine gute Schule? Was ist guter Unterricht? Wie entsteht ein gutes Schulklima? Was zeichnet eine gute Schulleitung aus?
      In dem 2009 erstmals veröffentlichten Karteikasten „Gute Schule“ geben Berliner Lehrkräfte und andere Fachleute aus dem Bildungsbereich Antworten auf diese und ähnliche Fragen.
      Die Karteikarten enthalten knapp und überschaubar grundlegende Informationen und praktische Hinweise zu den Themenbereichen Lehr- und Lernprozesse, Schulkultur und Schulmanagement.
      Mit der zweiten überarbeiteten Ausgabe liegt ein Ratgeber aus der Praxis für die Praxis vor, der neue Themenbereiche wie die Lernausgangslage, Rechenstörungen, Demokratieerziehung und Cyber-Mobbing umfasst."

      So heißt es auf der Senatsseite. Und tatsächlich, der Karteikasten macht interessante Angebote sowohl hinsichtlich der eigenen Unterrichtsgestaltung als auch der Schulentwicklung. Lesenswert!

      Download hier.


      Quelle:    https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/gute-schule/, 06.04.2017, 15:24Uhr. 

      Samstag, 28. Januar 2017

      Schülerbeobachtung

      Jeder Lehrer und jede Lehrerin kennt sie - SchülerInnen, die einen bis auf´s Blut reizen. Immer und immer wieder. Völlig halt- und ratlos drohen einem dann die eigenen Gesichtszüge zu entgleiten sowie die gebotene Mäßigung abhanden zu kommen. Was tun?
      Eine vielversprechende Handlung ist das intensive Beobachten. Was diese Handlung bewirken kann, habe ich in meiner entsprechenden Hausarbeit "Beobachtung eines Augenmerkkindes" reflektiert.

      Vorweg zwei gegensätzliche Auszüge aus dem Fazit der Hausarbeit:

      • "Allein wenn ich mir vor Augen führe, wie mein Schüler durch das gezielte Beobachten an Kontur, Schärfe, Stimmig-, Griffig- und Persönlichkeit gewonnen hat! Wie sich mein Verständnis seiner Handlungen von un-sinnig hin zu verstehbar gewandelt hat! Und wenn ich bedenke, wie die Ausgangslage war! So negativ, so ohne Handlungsideen. Ohnmächtig und gereizt. Und jetzt? Das, was ich da in den Händen halte – diese schiere Quantität der Handlungsmöglichkeiten – ist so vielversprechend, so ermutigend, so professionell und befähigend, so lohnend, so schüler- und erfolgsorientiert. Das macht mich insgesamt gesehen sehr zufrieden."

      • "Griffig. Lässt sich Individualität überhaupt greifen? Ist wahre Individualität nicht gerade das, was sich dem Zugriff widersetzt? Im Handeln, gar im Denken? Sichert ein Unterricht nicht gerade dann Individualisierung, wenn er auch Räume des Verborgenen zu-sichert? Wenn er dem Individuum Zufluchtsräume gewährt? Beobachten hingegen heißt v.a. Sichtbarmachen und damit Rationalität und Rationalisierung den Zugang sichern. Sichtbarmachen ist derart die wichtigste Voraussetzung der Normierung. So funktioniert letztlich Scham."

      Wer mehr erfahren möchte, der lese HIER.
      (Aus Gründen der Anonymisierung ist die Hausarbeit in Teilen geschwärzt. Der Lesbarkeit sowie dem Verständnis tut dies jedoch kein Abbruch.)


      Donnerstag, 22. Dezember 2016

      Farbe bekennen

      Auf Spiegel-online habe ich heute einen Artikel über eine Schweizer Schule gelesen. Dort werden Farben statt Noten verteilt. Ich persönlich stehe der Benotung von SchülerInnen sowieso kritisch gegenüber, aber das ist nicht der Grund, warum ich diesen Artikel empfehlen möchte. Vielmehr finde ich viel grandioser, dass er zeigt, was an Schule alles möglich ist.  
      Wer also Schulentwicklung mitgestalten möchte, kann gar nicht groß genug denken. Alles ist hinterfrag- und veränderbar, nichts muss, alles kann. Und nicht nur in der Schweiz, auch hier in Berlin sind die Gestaltungsmöglichkeiten riesig. Rhythmisierung des Schulalltags? In den Händen von uns LehrerInnen! Notenvergabe an Schule? Unser Ding! Projektbezogenes, fächerübergreifendes Lernen? Gibt´s schon!
      Wir, die wir Schule verändern möchten, sollten also aus dem Vollen schöpfen. Wir sollten uns fragen, welche Schule wir uns wünschen! Wir sollten fantasievoll träumen. Groß und bunt! Und dann sollten wir schauen, wie und mit wem setzt man um, was man für richtig hält. Auf geht´s!

      Samstag, 19. November 2016

      Auf den Lehrer kommt es an!

      Man könnte gegen Wocken die Studie von John Hattie ins Feld führen, auch wenn mir bewusst ist, dass:

      • sich die Befunde nicht 1:1 auf die deutsche Schulwirklichkeit übertragen lassen, da sich Hatties Datengrundlage v.a. auf das angelsächsische Bildungssysteme bezieht. 
      • Kreativität oder Demokratiefähigkeit, der Sinn für Ästhetik und für das Soziale in Hatties Listen als Lernziele nicht auftauchen, da ihn nur messbare kognitive Fachleistungen interessierten.

      Ich beziehe mich nachfolgend auf den Artikel aus der Zeit.

      Am Ende seiner Studie stellt Hattie eine Art Bestenliste der wirkungsvollsten pädagogischen Programme zusammen. Ganz unten in der Tabelle: Äußere Strukturen von Schule und Unterricht. Die größten Unterschiede im Lernzuwachs bestehen nicht zwischen Schulen, sondern zwischen einzelnen Klassen, und das bedeutet: zwischen einzelnen Lehrern. Das ist Hatties zentrale Botschaft! Was SchülerInnen lernen, bestimmt der einzelne Pädagoge. Alle anderen Einflussfaktoren – die materiellen Rahmenbedingungen, die Schulform oder spezielle Lehrmethoden – sind dagegen zweitrangig. Auf den guten Lehrer kommt es also an.


      Für Hattie darf ein guter Lehrer kein bloßer Lernbegleiter sein, kein Architekt von Lernumgebungen. Will er etwas erreichen, muss ein Lehrer sich vielmehr als Regisseur verstehen, als »activator«, der seine Klasse im Griff und jeden Einzelnen stets im Blick hat. Auch dass die Individualisierung des Unterrichts per se eine hohe Lernwirksamkeit besitzt, kann man nach Hatties Befunden nicht sagen. Vielmehr sind folgende Lehrereigenschaften sehr erfolgsversprechend:
      • stringenten Klassenführung
      • Transparenz und Klarheit (SchülerInnen also verständlich machen könne, was man als Lehrer von ihnen will)
      • Perspektivwechsel und permanente Selbstreflexion (»Ein guter Lehrer sieht den eigenen Unterricht mit den Augen seiner SchülerInnen«/ Wenn meine Klasse nicht vorankommt, sollte die Frage lauten, was mache ich falsch, was kann ich ändern?).
      • Feedbackkultur pflegen (Kein anderes Instrument kann in Hatties Ranking eine größere Effektstärke aufweisen als die systematische Selbsteinschätzung von SchülerInnen. Hattie predigt eine Kultur des »Feedbacks«, kein Begriff fällt häufiger in seinem Buch.)
      • Fehler schätzen (Fehler als die eigentlichen Treiber allen Lernens/ »the essence of learning« begreifen).
      • Breites Repertoire an Unterrichtsstilen (besonders wirksam ist die »direkte Instruktion«, also der häufig als Lehrermonolog missverstandene Frontalunterricht. Auch der offene Unterricht kann durchaus ertragreich sein – wenn die SchülerInnen dem eigenständigen Lernen gewachsen sind und die LehrerInnen es gründlich vorbereiten und über seinen Verlauf penibel wachen. Dass beides jedoch anscheinend selten zutrifft, darauf verweisen Hatties Forschungsergebnisse. Jedoch, ein guter Lehrer verfügt für Hattie eh über ein breites Repertoire von Unterrichtsstilen, die er je nach Klasse ausprobiert, »evidenzbasiert« prüft und – wenn nötig – auch wieder verwirft. »There are no magic bullets«, sagt Hattie, es gibt keine pädagogischen Patentrezepte.)
      • Emotionale Seite des Lernens berücksichtigend (Ohne Respekt und Wertschätzung, Fürsorge und Vertrauen könne Unterricht nicht gelingen.)

      Gute Pädagogen sind also wichtig. Die logische Schlussfolgerung: es gibt auch schlechte Vertreter des Metiers. Letztlich müssten wir laut Hattie also weniger unser Bildungssystem grundlegend umdenken, als vielmehr den Lehrer ins Zentrum allen Redens über Schule stellen. Denn, auf den Lehrer kommt es an! Die ZEIT fragt diesbezüglich: „Das klingt banal, (…). Doch warum glaubt die Politik noch immer, Lernergebnisse mit Strukturreformen verbessern zu können? Wieso blüht gerade in der deutschen Schuldebatte ein Methodenglauben?“ Man ist geneigt, nach der Begegnung mit Hans Wocken, sich letztere Frage selbst einmal zu stellen?



      Indirekter Unterricht

      Aus dem Vortrag von Prof. Dr. Hans Wocken 
      Am 14.10.2016 hielt Prof. Dr. Hans Wocken - jener Hans Wocken, der dem deutschen Bildungssystem mangelnde Inklusion bescheinigt - einen Vortrag über "Inklusiven Unterricht" an der FU Berlin. Ich persönlich habe diesen Vortrag als sehr bereichernd erlebt. Eloquent vorgetragen, mit ruhiger, schöner Stimme. Medien- und Anekdotengestützt. Dazu ein bunter Strauß an Maßnahmen, wie man ganz konkret inklusiven, d.h. für Wocken indirekten Unterricht gestalten kann. Das hat mir gefallen. Ebenso fand ich es ein sehr schönes Gefühl, nach Jahren des Schulalltages, mal wieder in einem Vorlesungsaal diese studentische Atmosphäre zu schnuppern.
      Das Bild jedoch, das mir nach zwei Wochen Ferien noch immer im Kopf herumgeisterte, ist alles andere als positiv besetzt. Es handelt sich um dieses schreckliche Ampel-Ritual, was Wocken in seinem Vortrag positiv hervorhob: Vor den jeweiligen Tischen eines Lehrerzimmers standen Ampeln. Rot bedeutete, dass man den Lehrer gerade nicht ansprechen könne, Gelb war so eine Art Standby-Modus und bei Grün war der Lehrer dann so weit. Vor den Tischen geisterten Schüler herum. Schrecklich! Und kalt! Mechanisch irgendwie! Zu Tode strukturorganisiert, könnte man sagen. Es hatte etwas vom Nummernziehen auf dem Arbeitsamt. Fast schon kafkaesk. Man hätte den Schülern ja auch einfach beibringen können, höflich nachzufragen, kurz zu warten, Termine abzusprechen – sprich angemessen kommunizieren zu lernen. Stattdessen… Gar nicht auszudenken, die Ampeln kämen abhanden, bräuchte man dann einen Lehreransprech-Verkehrspolizisten?

      Mechanisch. Kalt. Hm…Um ehrlich zu sein, dieser indirekte, delegierte Unterricht erweckt bei mir stets zweierlei – Interesse und Abneigung, letztlich also tiefgehende Ambivalenz. Es hat was mit diesem mechanisierten Unterrichtsgebaren zu tun, in dem der Lehrer hauptsächlich in die Rolle des Mentors und Begleiters zurücktritt. Manchmal fast ganz von der Bildfläche zu verschwinden scheint.
      Ich selbst habe einen kleinen Sohn. Oftmals ertappe ich mich dabei, wie ich ihn anrege, indem ich die Dinge zu mehr mache als sie sind - sie förmlich aufblase, groß mache, ihnen Leben und vielleicht Faszination einhauche. Und noch viel öfter ist es umgekehrt der Fall. Die Vorstellung wir würden uns gegenseitig Lern- oder Spielarrangements hinlegen… Ich weiß nicht. Eher scheinen wir den Dingen gemeinsam Bedeutung zu geben. Durch Interaktion, Emotionen, Phantasie, Humor, gestreute Zweifel, usw. Vielleicht könnte er dies auch mit einem Gleichaltrigen, aber wäre das nicht eher wie Schwimmen im eigenen Saft? Ist meine Rolle als Lehrer, der ein anderes Überblicks- und Allgemeinwissen hat, nicht zu großem Teil auch die Emotionalisierung und damit einhergehend Eröffnung fremder Welten, d.h. dem Schüler fremde Welten?
      Wocken meinte im an die Vorlesung anschließenden Workshop ja selbst, dass für ihn der indirekte Unterricht nicht alleinig stehen dürfe, sondern dass er stets durch direkten und kooperativen Unterricht flankiert werden müsse. Für mich klang dieser Nachschub von einem offensichtlichen Verfechter des delegierten Unterrichts nicht glaubhaft. Eher halbherzig.
      Dabei verraten seine Methodikvokabeln schon so viel: Lernkontrakte! Die Sprache von Justiz und Wirtschaft. Oder Kompetenz-Raster, also eine Art (Raster-)Fahndung nach Kompetenzen! Ein Vermessen des lernenden Individuums. Welches Kind will das, will das von sich aus?

      Es bleibt dabei. Ich bin ambivalent. Positiv in Erinnerung - und deshalb läuft dieser Artikel auch unter dem Label: Lösungen - ist mir die Friedensbrücke geblieben oder der Raum als 3. Pädagoge, oder die Think-Pair-Share-Methode, oder die Improtechnik des „Gebärdendolmetschers“, die mir wiederholt zeigt, wie fruchtbar Theatertechniken sein können. Letztere belegen meines Erachtens, dass Kultur in Schule gar nicht hoch genug gewertet werden kann, weil sie das leistet, was nicht zu kurz kommen sollte: Emotionalisierung und Identifizierung.



      Mittwoch, 16. November 2016

      Konzeptgruppe BLAU

      Ich möchte Schule verändern! Zeitnah, zum Besseren, schülerorientiert, inklusiv - aber nicht um jeden Preis. Meine Erfahrung sagt mir, dass Schulentwicklung zäh und voller Widerstände ist. Denn die dafür zuständigen Schulgremien jeglicher Art sind auch immer Orte von Interessenskämpfen, Profilneurosen, Hierarchie- und Zuständigkeitsgedöns. Das verzögert, lähmt, frustriert! Wie also vorgehen?

      Diese Frage hat mich in den letzten Wochen umgetrieben und ich habe letztlich Folgendes unternommen:
      • Gespräche in Hospitationsschulen über gelingende Schulentwicklung geführt
      • einen starken, positiv gestimmten und tollen Mitstreiter gefunden
      • weitere Gleichgesinnte per Gespräch und offener Mail gesucht, eingeladen und gefunden
      • einen (wenig genutzten) Raum zusammen mit unserem tollen Hausmeister für uns umgestaltet und methodisch aufgerüstet (Whiteboard montiert, Methodenkoffer angeschafft)
      • ein erstes Treffen organisiert
      • dem Kind einen Namen gegeben

      Unsere Konzeptgruppe heißt: "Konzeptgruppe BLAU".
      Wofür steht dieser Name? Vor allem für ins Blaue denken! Tabu-los, Grenzen-los, ohne störende Formalien und Hierarchien. Die Gruppe versteht sich als Ideenschmiede und Ideenpool. Offen für jede/n. Im Zentrum all unserer Überlegungen steht die Frage: Wie stellen wir uns die Schule der (nahen) Zukunft wünschenswerter Weise vor?

      Und gestern war es nun so weit! Unser erstes Treffen! Fünf Personen an einem Tisch (zwei weitere Mitstreiter leider verhindert). Trotz unterschiedlicher Ideen und Ansätze, alles Gleichgesinnte! Was für ein schönes Gefühl.

      Wie sind wir in unserem ersten Treffen vorgegangen:
      1. Vergewissern: Erzählen, warum jeder Einzelne der Einladung gefolgt ist (Beweggründe)
      2. Brainstormen: Auf Methodenkarten notieren, was wir konkret an unserer Schule angehen wollen (Wünsche; Arbeitsschwerpunkte; Ideen).
      3. Clustern: Die Methodenkarten an der Tafel besprechen und nach Schwerpunkten clustern.
      4. Ranken: Abstimmen darüber, mit welchem Schwerpunkt wir beginnen möchten und welcher Schwerpunkt warten kann/muss. Jeder durfte drei Stimmen abgeben, so entstand ein Ranking unserer sechs Schwerpunkte.
      5. Daten: Einen neuen Termin ausmachen, um mit unserem ersten Schwerpunkt starten zu können, ihn neu, verschieden, kontrovers, differenziert zu denken und von da aus Schritte anzubahnen, wie wir was, wann, konkret und möglichst unbürokratisch umsetzen.
      Was soll ich sagen? Es fühlte sich toll an! Positiv. Offen. Freundlich. Miteinander. Vital. Wertschätzend. Sinnvoll. Strukturiert. Zielorientiert. Effektiv. Produktiv. Gleichwertig. Richtig.


      Dienstag, 1. November 2016

      Sonntag, 30. Oktober 2016

      Die Sprache zählt.

      Nachfolgende Gedanken beruhen z.T. auf Denkimpulsen von Prof. Dr. Ramseger sowie meiner Mentorin Frau André, die beide Behörden- und Verwaltungsprache nicht unkritisch gegenüber stehen. 

      Sonderpädagoge. 
      Sonder-pädagoge. Warum eigentlich sonder? Warum nicht Förder-Pädagoge? Man möchte doch fördern, unterstützen, stark machen. Andererseits, das sollte ja jeder Pädagoge/-in möchten, wäre also tautologisch. 
      Warum also sonder, was meint man damit?
      Meint man etwas den Sonderling, den es zu fördern oder gar abzusondern gilt? Dieses sonderbare Kind mit Behinderung? Dieses Individuum sondergleichen
      Oder meint dieses sonder, dass der Pädagoge besonders sei, eine spezielle Ausbildung habe? Falls letzteres gemeint ist, ist diese Spezialisierung dann noch zeitgemäß? Ist sie Inklusion eher zu- oder doch eher abträglich, im Sinne von: Nimm Du mal dieses Kind, Du bist ja schließlich SonderpädagogIN...? Ich selbst bin mir da noch unschlüssig.

      i-Kinder. 
      Noch so ein Wort. Man meint die Inklusions-Kinder, also die mit einem Status oder einer Behinderung. i-Kinder hat was von Iiiiiiiieeeee-Kinder. Klingt nach "Igitt!" Zudem meint es Kinder, die inkludiert werden müssten. Dabei muss kein Kind inkludiert werden, wenn eine Schule inklusiv arbeitet. Inklusion gibt es - konsequent zu Ende gedacht - nämlich eigentlich nur ganz. Entweder alle Kinder werden in-klusive gedacht oder der Teil, der als "zu inkludieren" gefasst wird, wird durch dieses Denken ex-klusiv.

      Weiteres mit fahlem Beigeschmack.
      Ein Klassiker unter den Beschreibungen mit fahlem Beigeschmack ist wahrscheinlich das Brechen an der Norm mittels der Begriffe normal/unnormal und die oftmals einhergehende, manchmal folgenschwere Wertung: gesund/krank. Verniedlichende Bezeichnungen (wie Downies - für Menschen mit Trisomie 21) zielen derweil auf die Würde, das plumpe Duzen auf die Kommunikation in Augenhöhe.
      Und so weiter und so weiter. Unsere Sprache. unser Denken und folglich unser Handeln sind voll von Anmaßungen gegenüber Menschen mit Behinderung. Manchmal ist uns/mir das gar nicht richtig bewusst.

      Zur Bewusstmachung lädt eine interessante Webseite ein:
      www.leidmedien.deVon daher stammt auch ein Leidfaden hinsichtlich möglichst zu vermeidender Beschreibungen.




      Freitag, 14. Oktober 2016

      Index für Inklusion (Schulentwicklung)

      Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonventionen durch die Bundesregierung Deutschland im Jahr 2009 ist Inklusion für deutsche Schulen verpflichtend geworden. Die Frage der Inklusion ist also keine Frage des Wollens weniger (sich hierfür zuständig fühlender PädagogInnen),  sondern eine Frage des Sollens aller PädagogInnen. Sie ist bindende Pflicht, nicht vernachlässigbares Recht. Insofern sind die Schulen ausnahmslos angehalten sich auf den Weg der Inklusion zu begeben.
      Ein diesbezüglich wirksames Instrument für Schulentwicklung ist der Index für Inklusion. Im Vorwort heißt es:

      "Dieser (...) Index für Inklusion stellt (...) einen Fundus dar, aus dem Schulen schöpfen können, (...), wenn sie vor der (...) Aufgabe der Selbstevaluation stehen. So muss nicht jede Schule das Rad der Schulentwicklung wieder völlig neu erfinden. Der Index macht Vorschläge, er ist kein Test für Schulen, die als Ergebnis bescheinigt bekommen, wie sehr - oder auch wie wenig - sie inklusiv sind. Er ist also kein Pflichtkurs, (...), sondern der Index bietet eine Systematik, die dabei hilft, nächste - und zwar angemessen große oder kleine, verkraftbare, realistische - Schritte in der Entwicklung zu gehen, zum Beispiel im nächsten Schuljahr."

      Der Index ist also von Schulen als Instrument nutz- und modifizierbar. Für eine Standortbestimmung. Für die Entwicklung eines Schulprofils/-programms. Und für theoretische Überlegungen wie Inklusion praktisch gelingen kann. 
      Er ist in fünf Kapitel unterteilt:
      1. Theorie
      2. konkrete Prozess-Vorschläge
      3. Materialien für die Analyse
      4. Fragebögen
      5. weiterführende Literatur und Glossar
      V.a. die Fragebögen bieten Anlass für eine fruchtbare Diskussion. Sie sollten nicht nach dem Prinzip JA/NEIN abgehakt werden, sondern als Möglichkeit verstanden werden, sich an der jeweiligen Schule bereits genutzter Inklusionsperlen bewusst zu werden sowie sich auf neue, weiterführende Ziele zu verständigen.


      Neben dem sehr umfangreichen Index für Inklusion als Instrument der Schulentwicklung gibt es vom Lisum zwei sehr empfehlenswerte Quick-Guides für Inklusion, die eher als Handreichungen für den einzelnen Lehrer/-in gedacht sind und als solche Anregungen geben, wie die eigenen SchülerInnen konkret im Sinne der Inklusion betreut werden könnten.




      Samstag, 8. Oktober 2016

      Der Raum ist die Lösung!

      Panopticon
      Wenn man Inklusion in Schule konsequent zu Ende denkt, dann ist sie nur möglich, wenn man die Schule als Raum radikal hinterfragt. Das fängt bei der Barrierefreiheit an und hört bei der Sitzordnung noch lange nicht auf. 
      Den Raum als 3. Pädagogen gilt es zu entdecken. In seinen vielfältigen Möglichkeiten, seinen Chancen, seiner geheimnisvollen Kraft, Dinge so oder ganz anders zu leiten. 

      Laut Günther Anders ist Raum eine Grundform der Behinderung. Michel Foucault setzt den gesellschaftlichen Raum mit einem lebenden Tableau gleich, er ist ihm zufolge sowohl Machttechnik als auch Wissensverfahren. Doch was geht uns das an?
      Es bedeutet für uns Pädagogen Entscheidendes, nämlich, dass Raum so viel mehr ist, als ein bloßer Behälter von Stühlen, Tischen, Schränken, Tafeln, Kleiderhaken usw. 
      Aus der Geografie kenne ich vier Konzepte Raum zu begreifen. Jedes dieser Konzept kann meines Erachtens auch auf Schulräume angewandt werden. Dabei werden seitens der Räume an uns PädagogenInnen stets völlig neue Fragen herangetragen. Das macht das Denken in diesen Konzepten so interessant.

      1. Der Raum als Behälter
      Beim Raum als Behälter geht man davon auf, dass der Raum unabhängig von den materiellen Körpern besteht. Er dient quasi als Plattform für Gegenstände und Prozesse. Als PädagogInnen ließen sich folgende Fragen exemplarisch ableiten:
      • Welche Prozesse finde ich pädagogisch wünschenswert (Gruppenarbeit, Präsentationen)?
      • Welche Gegenstände benötige ich, um die gewünschten Prozesse zu fördern (verschiebbare Tische, Smartboards)?

      2. Der Raum als Relation (Distanz-Relations-Modell)
      Dieses Konzept begreift Raum nicht mehr als etwas Absolutes. Raum ist vielmehr ein System von Lagebeziehungen materieller Objekte, welches gesellschaftliche Wirklichkeit schafft. Fragen ließe sich beispielsweise:
      • Wie sollen die Interaktionen in diesem Raum aussehen (Welche Rolle des Lehrers ist wünschenswert - klassischer Lehrer oder eher Lernbegleiter)?
      • Wie muss ich die Gegenstände zueinander anordnen (Ordnung der Dinge), um die gewünschten Interaktionen zu ermöglichen (klassischer Lehrer = Lehrertisch zentral, vor der gesamten Klasse oder Lernbegleiter = Lehrertisch an der Seite verschwindend)?

      3. Der Raum als Ergebnis von Wahrnehmung
      Dieses Konzept denkt den Raum nicht mehr physikalisch, sondern subjektzentriert. Es gibt nicht mehr den Raum, die Wirklichkeit, sondern Räume sind wahrnehmungsabhängig. Unsere Wahrnehmung aber, ist an unsere Erwartungen (auch Wissen und Vorerfahrungen) geknüpft und andersherum. Das bedeutet auch, dass die menschliche Handlung je nachdem ausfällt, ob den Erwartungen an den Raum ent- oder widersprochen wird. Folgende beispielhaften Fragen wären in diesem Kontext sinnvoll:
      • Welche Erwartungen haben die SchülerInnen an den Raum, um ihre Ziele verfolgen und ihren Bedürfnissen gerecht werden zu können (Angstfreies Klima, sehr individuelle Ziele und Bedürfnisse)?
      • Wie kann ich die SchülerInnen in die Raumgestaltung einbeziehen (Partizipation), damit ihre individuelle Raumwahrnehmung ihre Lernprozesse positiv beeinflusst (individuell gestaltete Rückzugsmöglichkeiten)?
      Die Notwendigkeit der Einbeziehung der SchülerInnen wird deutlich, wenn man als LehrerIn einmal den Versuch starten möchte, eine Antwort darauf zu finden, welche Erwartungen an einen Klassenraum ein Schüler mit Autismus, eine Schülerin aus gewalttätigem Elternhaus oder ein gehbehindertes Kind hat. Können wir diese Frage besser beantworten als die betreffenden Kinder selbst?

      4. Raum als Element der Kommunikation und Handlung
      Dieses Konzept geht davon aus, dass Räume erst durch soziales Handeln von Subjekten entstehen.   Diese beziehen mit ihrem alltäglichen Handeln die Welt einerseits auf sich, andererseits gestalten sie diese mit ihren Handlungen auch materiell und symbolisch.
      Eine diesbezügliche Denkaufgabe könnte helfen, dass Konzept zu verstehen: Welche Angsträume in Schule gibt es für ein Mobbingopfer? Die schlecht einzusehende Ecke im Hof, der Schulweg, der Klassenraum, die Umkleidekabine der Sporthalle. Diese "Räume" konstituieren sich als Räume für das Opfer nicht als Behälter, nicht durch Lagerelationen und auch nicht vordergründig (wenngleich nicht zu wenig) durch die eigenen Wahrnehmung, sondern zu aller erst durch die verschiedenen, soziale Interaktionen zwischen Tätern und Opfer. Fragen könnten demzufolge exemplarisch wie folgt lauten:
      • Welches soziale Klima soll an unserer Schule herrschen?
      • Was ist zu unternehmen, damit die SchülerInnen die gewünschten sozialen Handlungen erlernen (soziales Lernen)?
      Die Frage an den Raum ist letztlich zu einer Frage an die Handlung geworden. Das ist spannend!


      Sonntag, 2. Oktober 2016

      Verhaltensauffällige Schüler - und nun?

      Jede Schule kennt sie. Die SchülerInnen, die einen ratlos machen, für die die Schule schlichtweg nicht gemacht zu sein scheint. Die sich entziehen wo sie nur können, die nach völlig eigenen Regeln durch das Schulgebäude wabern, diffus, manchmal gewalttätig und laut. Die oftmals in ihrem Kiez schon eine Nummer sind, polizeilich erfasst. Diese SchülerInnen hinterlassen meist bei allen Beteiligten ein großes Aufatmen, wenn sie vollends schuldistanziert geworden sind bzw. dauerhaft suspendiert wurden. 
      Doch wem ist damit wirklich geholfen? Die Schule muss sich eingestehen, kein Konzept, keine Mittel gefunden zu haben, um diese SchülerInnen sinnvoll einzubinden, zu in-kludieren. Und die SchülerInnen selbst, welchem Werdegang steuern sie außerhalb der Schule zu?

      Projekt Übergang: Die fünf Lernzugänge 
      Frau Prof. Dr. Ulrike Becker hat diesbezüglich ein Konzept entwickelt, welches sie wissenschaftlich begleitet und unserer Weiterbildungsgruppe vorstellte. Ihre Einführungsworte fand ich bemerkenswert. Sie lauteten ungefähr wie folgt: 
      Inklusion, als Anerkennung und Akzeptanz aller SchülerInnen, muss sich auch bzw. gerade in Konfliktsituationen zeigen. 
      Der Begriff zeigt damit starke Parallelen zum Begriff der Toleranz. Und mit der ist es ja bekanntlich auch immer dann weit her, wenn die Meinungsverschiedenheiten am größten sind.

      Das Konzept von Frau Prof. Dr. Ulrike Becker firmiert unter dem Namen "Projekt Übergang"
      Da es sich im Wesentlichen hier nachlesen lässt, möchte ich nachfolgend nur ergänzende Punkte zum Vortrag dokumentieren.

      A) Zum "Projekt Übergang"
      • das Konzept ist nur bis zur 8. Klasse sinnvoll, da danach der Einfluss der Eltern und der Jugendhilfe auf Jugendliche schwindet; ab 9. Klasse eher Duales Lernen förderlich, um SchülerInnen einzubinden
      • Lehrer, die die "Übergangsklassen" betreuen sollten dafür mit 14-16 Ermäßigungsstunden eingeplant werden (zusammen mit Schulleitung und -aufsicht zu klären)
      • die temporären Lerngruppen sollten nach Möglichkeit 3./4. Stunde liegen (LehrerInnen in 1./2. Stunde dann nachsichtiger, da bald Entlastung)
      • in den Übergangsklassen darf jedes Kind 1xWoche einen Gastschüler mitbringen (soziale Integration; belebende Impulse; versus Stigmatisierung)
      • Arbeit am eigenen Thema (in den "Übergangsklassen") sollte nach Möglichkeit später im Klassenverband präsentiert werden (Wertschätzung); Werkbänke für eigene Arbeiten vorteilhaft; keine Ausflüge etc., da Übergangsklassen keine Highlight-Feierstunden sein sollen
      • Schülerbüros dürfen von SchülerIn selbst gestaltet werden, zudem dient es als Rückzugs- und Konzentrationsort; deshalb sollte auch SchülerIn bestimmen dürfen, wer wann eintreten darf
      • Lehrerberatung 1xWoche, Austausch aller Pädagogen mit LehrerInnen der "Übergangsklasse"
      • regelmäßige Elternberatung ist wirksamstes aller Instrumente (notfalls Hausbesuche; Schweigepflicht verdeutlichen wo nötig)
      • regelmäßiger, kooperativer Austausch zwischen Jugendamt und Schule soll Wirbelsturmeffekt nach Zieberth verhindern (Spannungen zwischen den Unterstützern wendet den Blick vom Kind ab, dass im Auge des Orkans steht) 
      • Ganztagsbetreuung erstrebenswert inklusive Essensversorgung, da derart schulinduzierte Spannungen zu Hause minimiert werden
      • vorhergehende Einrichtungen mit einbeziehen und in Schulhilfekonferenz vorher alle auf "Projekt Übergang" einschwören

      B) (Be)Deutung der störenden Verhaltensweisen
      • Verhaltensstörungen dienen der Reduktion von Ängsten, stehen im Dienste der Abwehr und sind Antworten auf soziale Lebenslage des Schülers/ der Schülerin. 
      • Ängste lassen sich bei allen Beteiligten (Eltern, Kind, PädagogInnen) reduzieren durch feste Strukturen und haltgebende Beziehungen (siehe Projekt Übergang)
      • Was LehrerInnen seitens der beschriebenen SchülerInnen als Provokationen erleben, sind also Verhaltensweisen, die diese SchülerInnen von zu Hause in die Schule tragen. Warum? Weil diese Verhaltensweisen zu Hause erfolgversprechend sind. 
      • Oftmals erreichen die SchülerInnen mit ihrem Verhalten, dass die LehrerInnen ähnlich wie die Eltern zu Hause schwingen. Die LehrerInnen werden aggressiv. Häusliche Konflikte werden in die Schule projiziert.
      In Bezug auf die letzten beiden Punkten verwies Frau Prof. Dr. Ulrike Becker auf einen Herrn Ziebarth. Ich selbst habe ihn bereits aus einer schulinternen Fortbildung kennengelernt und kann ihn nur weiterempfehlen. Steckenpferd von Herrn Ziebarth ist es, diese Projektionsprozesse durch Systemaufstellungen aufzuzeigen, erfahr- und verstehbar zu machen, um von hier aus Lösungsansätze entwickeln zu können. 


      C) Weitere Hilfsstellen und Handreichungen

      Abschließend der Hinweis, dass man es vielleicht auch versuchen könnte, sich direkt an Prof. Dr. Ulrike Becker bzw. ihre Schule zu wenden.
      Zudem noch zwei Links zu weiteren themennahen Artikeln von Prof. Dr. Ulrike Becker:

      Samstag, 1. Oktober 2016

      Lernnetzwerke statt traditioneller Lehrerfortbildung

      Wer ist eigentlich der Leiter unserer Weiterbildung und wofür steht er?
      Diese Frage habe ich mir heute gestellt und ein wenig gegoogelt. Gelandet bin ich bei einem Artikel aus dem Tagesspiegel, in dem mir Herr Prof. Dr. Ramseger einen interessanten Impuls liefert über Lehrerbildung neu nachzudenken.

      In dem Artikel heißt es u.a.:
      "Was würde eine Zwangsberieselung schon helfen? Wir wissen seit langem, dass die traditionellen Formen der Lehrerfortbildung relativ wirkungslos sind. Die Teilnehmer erinnern sich bald kaum noch an das, was sie an einem einzelnen Wochenendseminar mal gehört haben, und landen schnell wieder im Alltagstrott. Erfolgversprechender sind Programme, die die Lehrer selbst für ihre Zwecke mitentwickeln, wie die Robert-Bosch-, die Telekom- und andere Stiftungen sie fördern. Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten dort in Gruppen über einen längeren Zeitraum an ihrem Projekt zusammen und bilden Lernnetzwerke mit ihren Nachbarschulen. So werden Schulen zu lernenden Systemen. Anstatt Zwangsfortbildungen zu organisieren, sollte man den Schulen lieber einen eigenen Fortbildungsetat geben, um etwas in Bewegung zu setzen, – und die Pflicht, ihn für Veränderungen an der Schule auszugeben."


      Anbei die angesprochenen sowie weitere Stiftungen zum Anklicken.

      Robert-Bosch-Stiftung



      Telekom-Stiftung

















      Bertelsmann-Stiftung



      Personalisiertes Lernen

      Diese Woche wurde uns auf methodisch interessante Weise ein Buch nahegelegt, welches sehr verheißungsvoll zu sein scheint, wenn es um die Frage des personalisierten Lernens geht. 
      Erste Einblicke in das Buch erhält man, wenn man auf das nachfolgende Bild klickt.

      HEP-Verlag

      In der Buchbeschreibung heißt es: 
      "Dieses Buch ist deshalb ein Buch zum Nachdenken: Denn wer als Lehrerin oder Lehrer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken. Wer über Aufgaben nachdenkt, muss über Lernen nachdenken. Und wer über Lernen nachdenkt, muss über Schule nachdenken. Es ist aber auch ein Buch zum Handeln: Denn erstens kommt es anders und zweitens wenn man (nach)denkt. Auf der Ebene des alltagspraktischen Handelns wird die Frage aufgenommen, was Lernaufgaben zu »guten« Aufgaben macht. Damit verbunden ist eine komplett andere und in vielen Teilen auch neue Sicht auf »Aufgaben« als Werkzeuge zur Aktivierung von Lernprozessen. Wirkungsstarke Lernaufgaben werden in prototypischen Formaten und Beispielen vorgestellt. Doch jedes Lernverhalten ist abhängig vom Kontext, in dem es stattfindet. Deshalb gilt auch für Lernaufgaben: Wie man sie einbettet, so liegen sie einem."

      Die Macher des Buches sind übrigens eng verknüpft mit dem Beatenberg-Institut in der Schweiz. Ein Blick auf die entsprechende Homepage verspricht weitere Denkimpulse: www.institut-beatenberg.ch.


      Zeit für einen Perspektivwechsel!

      Liebes Lerntagebuch,

      die heutige Aufgabe fand ich unverhofft großartig! Ich habe das Gefühl, dass ich durch sie mein erstes Inklusions-Instrument an die Hand bekommen habe, also ein Instrument, dass es mir ermöglicht, Inklusion erfolgreich an meiner Schule durchführen zu können. Das Instrument erscheint mir so einfach wie effizient. Es hat so gar nichts mit großer Zauberei zu tun, was ich sehr ermutigend finde. Eigentlich ist es sogar absolut naheliegend, drängt sich förmlich auf. Dass ich es als Pädagoge bisher so selten (bewusst) eingesetzt habe, beschämt mich fast ein bisschen. Das Instrument war in ihrer Aufgabe impliziert und heißt: Perspektivwechsel.

      Kippbild von Octavio Ocampo
      Wie wunderbar erhellend es sich anfühlte, sich mit Muße, Zeit und in vollem Bewusstsein, die Welt durch die Augen einer Augenmerk-Schülerin vorzustellen (so lautete im Groben die Aufgabe). Dabei ein Gefühl dafür zu bekommen, was diese Schülerin sucht und braucht und – auch im Umkehrschluss – was sie verlöre, wenn sich die Situation anders gestalten täte. 
      Die Konfliktsituation meines Augenmerkkindes hat etwas mit seiner Behinderung zu tun. Monica (Name geändert) ist gehbehindert und wir hatten zusammen Sportunterricht. Bei einem von mir initiierten Fangespiel spielte sie mit anfänglich großer Bereitschaft mit, wirkte aber zunehmend verlorener, wurde sie von Ihren MitschülerInnen doch absolut nicht ernsthaft berücksichtigt. Ein einziges Mal wurde sie angeschlagen. Es fühlte sich irgendwie mitleidig motiviert an. Genauso mitleidig motiviert erbarmte sich ein Mitschüler und ließ sich von Monica als Fängerin abschlagen. Ich brach das Spiel ab und führte eine Regeländerung ein: Am Hallenende wurde eine Ecke per Bank abgetrennt und von dort aus sollte Monica die anderen SchülerInnen abwerfen dürfen. Den geworfenen Ball sollte sie immer wieder zurückgebracht bekommen und zwar von einer Schülerin, die bis dahin ebenfalls völlig unbeteiligt im Spielfeld verweilte, Hannah (Name geändert), eine Schülerin mit geistiger Behinderung. 
      Es funktionierte wunderbar! Und es fühlte sich so toll an Monica und Hannah zu beobachten. Beide waren aktiv, mittendrin und insbesondere Monica entwickelte riesigen Ehrgeiz. Jedes Mal, wenn sie jemanden abwarf – was ihr schwer fiel – freute sie sich ungemein. Und die anderen SchülerInnen, für sie war Monica eine richtig ernst zu nehmende Gefahr geworden. Das Spiel hatte sich in seiner Attraktivität sogar gesteigert. Plötzlich musste man sich vor den Fängern in Acht nehmen und vor Monica. 
      Natürlich sehe ich jetzt – mit etwas Abstand – weitere Verbesserungsmöglichkeiten. Man könnte Regeländerung zusammen mit den SchülerInnen entwickeln und auch Hannah hätte Bälle werfen können. Dennoch, wenn ich die Perspektive von Monica einnehme, kommen mir lauter Worte in den Sinn, die einfach wunderbar sind. Ich glaube Monica hat sich anerkannt, gesehen, respektiert, integriert, unterstützt, angenommen, bestätigt, bestärkt, normal, stark, im Einklang mit dem Stundengeschehen, motiviert und glücklich gefühlt. 

      Letzte Sportstunde habe ich leider nicht reagiert und Monica ihrerseits reagierte unglaublich traurig und wütend. Fühlte sie sich nicht anerkannt, nicht gesehen, nicht respektiert, nicht integriert, nicht unterstützt, nicht angenommen, nicht bestätigt, nicht bestärkt, unnormal, schwach, als Fremdkörper im Stundengeschehen? Sehr wahrscheinlich JA. Für mich ein riesen Impuls, diese Schülerin in meiner Unterrichtsplanung weiterhin im Augenmerk zu behalten. Danke, Perspektivwechsel!