Samstag, 1. Oktober 2016

Zeit für einen Perspektivwechsel!

Liebes Lerntagebuch,

die heutige Aufgabe fand ich unverhofft großartig! Ich habe das Gefühl, dass ich durch sie mein erstes Inklusions-Instrument an die Hand bekommen habe, also ein Instrument, dass es mir ermöglicht, Inklusion erfolgreich an meiner Schule durchführen zu können. Das Instrument erscheint mir so einfach wie effizient. Es hat so gar nichts mit großer Zauberei zu tun, was ich sehr ermutigend finde. Eigentlich ist es sogar absolut naheliegend, drängt sich förmlich auf. Dass ich es als Pädagoge bisher so selten (bewusst) eingesetzt habe, beschämt mich fast ein bisschen. Das Instrument war in ihrer Aufgabe impliziert und heißt: Perspektivwechsel.

Kippbild von Octavio Ocampo
Wie wunderbar erhellend es sich anfühlte, sich mit Muße, Zeit und in vollem Bewusstsein, die Welt durch die Augen einer Augenmerk-Schülerin vorzustellen (so lautete im Groben die Aufgabe). Dabei ein Gefühl dafür zu bekommen, was diese Schülerin sucht und braucht und – auch im Umkehrschluss – was sie verlöre, wenn sich die Situation anders gestalten täte. 
Die Konfliktsituation meines Augenmerkkindes hat etwas mit seiner Behinderung zu tun. Monica (Name geändert) ist gehbehindert und wir hatten zusammen Sportunterricht. Bei einem von mir initiierten Fangespiel spielte sie mit anfänglich großer Bereitschaft mit, wirkte aber zunehmend verlorener, wurde sie von Ihren MitschülerInnen doch absolut nicht ernsthaft berücksichtigt. Ein einziges Mal wurde sie angeschlagen. Es fühlte sich irgendwie mitleidig motiviert an. Genauso mitleidig motiviert erbarmte sich ein Mitschüler und ließ sich von Monica als Fängerin abschlagen. Ich brach das Spiel ab und führte eine Regeländerung ein: Am Hallenende wurde eine Ecke per Bank abgetrennt und von dort aus sollte Monica die anderen SchülerInnen abwerfen dürfen. Den geworfenen Ball sollte sie immer wieder zurückgebracht bekommen und zwar von einer Schülerin, die bis dahin ebenfalls völlig unbeteiligt im Spielfeld verweilte, Hannah (Name geändert), eine Schülerin mit geistiger Behinderung. 
Es funktionierte wunderbar! Und es fühlte sich so toll an Monica und Hannah zu beobachten. Beide waren aktiv, mittendrin und insbesondere Monica entwickelte riesigen Ehrgeiz. Jedes Mal, wenn sie jemanden abwarf – was ihr schwer fiel – freute sie sich ungemein. Und die anderen SchülerInnen, für sie war Monica eine richtig ernst zu nehmende Gefahr geworden. Das Spiel hatte sich in seiner Attraktivität sogar gesteigert. Plötzlich musste man sich vor den Fängern in Acht nehmen und vor Monica. 
Natürlich sehe ich jetzt – mit etwas Abstand – weitere Verbesserungsmöglichkeiten. Man könnte Regeländerung zusammen mit den SchülerInnen entwickeln und auch Hannah hätte Bälle werfen können. Dennoch, wenn ich die Perspektive von Monica einnehme, kommen mir lauter Worte in den Sinn, die einfach wunderbar sind. Ich glaube Monica hat sich anerkannt, gesehen, respektiert, integriert, unterstützt, angenommen, bestätigt, bestärkt, normal, stark, im Einklang mit dem Stundengeschehen, motiviert und glücklich gefühlt. 

Letzte Sportstunde habe ich leider nicht reagiert und Monica ihrerseits reagierte unglaublich traurig und wütend. Fühlte sie sich nicht anerkannt, nicht gesehen, nicht respektiert, nicht integriert, nicht unterstützt, nicht angenommen, nicht bestätigt, nicht bestärkt, unnormal, schwach, als Fremdkörper im Stundengeschehen? Sehr wahrscheinlich JA. Für mich ein riesen Impuls, diese Schülerin in meiner Unterrichtsplanung weiterhin im Augenmerk zu behalten. Danke, Perspektivwechsel!


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