Freitag, 30. September 2016

Verschwendung täte gut!

In der letzten Seminareinheit hat der Vortrag von Herrn Prof. Dr. Ramseger in mir einen tiefen Wunsch hervortreten lassen. Den Wunsch nach einem Bildungssystem der Verschwendung. Von mir aus der gezielten Verschwendung, aber in jedem Falle der Verschwendung.
Selbst da, wo ich lese: „Inklusion heißt: Die Schule bekommt genügend Ressourcen, um alle Kinder optimal zu fördern, und braucht nicht einzelne Kinder als ´behindert´ zu etikettieren, um Ressourcen zu erhalten.“ zeigt sich das, was unser jetziges Bildungssystem vor allem kennzeichnet: Begrenzung. „Genügend Ressourcen“. Darin lese ich vor allem Wörter wie „genug“, „genügen“ und im weitesten Sinne „begnügen“. Also Grenze, Verzicht, Zufriedengeben, in befriedigendem Maße erfüllend. Es schmeckt ein wenig nach den bildungspolitisch gerne verwendeten Begriffen wie Grundausstattung und Zumessungsrichtlinien. Aber das ist weit weg von dem, was ich als Pädagoge möchte und als gut erachte.
Schule beschäftigt sich immer wieder mit Segregation/Auslese, mit Diagnostik/Status und immer wieder der Frage nach den Ressourcen. Für mich ergeben sie einen logischen Dreiklang, eine Einheit: Diagnostik-Auslese-Ressourcen. Sie sind für mich alle Teil ein- und desselben Problems. Egal wo man kritisch anfängt zu fragen, Inklusion scheint mir nur fern dieses Dreigestirns möglich. An Aktualität aber scheint dieses Dreigestirn nichts eingebüßt zu haben. Im Gegenteil.
  • Die Zahl der Kinder mit diagnostischem Förderbedarf steigt seit Jahren.
  • Die Integrationsquote in Deutschland liegt 2005 bei 13%.
  • Fördern und Auslesen bilden einen institutionellen Widerspruch.
  • In Deutschland gibt es den Förderbedarf Lernen, in Schweden nicht.
Diagnostik. Auslese. Ressource. Das alles erinnert mich auch an „Sexualität und Strafen“ von Foucault. Sie legen mir das Gefühl in den Bauch, als ob es in unserem Schulsytem vor allen anderen Dingen um das Ordnen, Verteilen, Strukturieren, Begrenzen, Ökonomisieren und Zugänglichmachen der Individuen geht. Ein System muss das sicherlich auch. Und Bildung hat bei uns ja System. Vielleicht aber sollte ein Bildungssystem, das Inklusion fokussiert – dass also Entgrenzt, Öffnet, Durchmischt – eben gerade deswegen weniger System und mehr Milieu sein. Dann wären wir Teil eines Bildungsmilieus. Macht das Sinn? 
Wenig Sinn macht für mich in jedem Fall die bisherige Ausrichtung unseres Bildungssytems nach vordergründig ökonomischen Gesichtspunkten und das gleichzeitige Wollen von Inklusion. Ökonomisierung der Zeit. Zeitökonomie. 45 Minuten. 90 Minuten. Abi nach der 12. Klasse, Einschulung mit 5. Es herrscht ein permanenter Leistungsdruck. Und permanent meint immer. Leistung und Zeit gehen hier also Hand in Hand. Das System verlangt die ständige Leistung. Und das stimmt für Schule ja tatsächlich. Jede Stunde Notendruck. Alle drei Wochen spätestens eine Leistungsüberprüfung. Ein Vergleichen, ein Ausrichten, ein Ordnen. Es verwundert mich nicht, dass eintritt, was schulübergreifend so oft zu beobachten ist: Kinder kommen lernfreudig in die Schule und sind nach wenigen Wochen absolut schulmüde.

Abschließend eine Geschichte...
Die Geschichte handelt von einem König. Er gibt einem seiner Diener den Auftrag sein Land zu kartieren, damit er es besser beherrschen und bestellen könne. Der Diener tut wie ihm geheißen. Der König aber ist unzufrieden und verlangt eine genauere Karte. Der Diener holt weitere Diener und zusammen machen sie sich an die Arbeit. Nach Wochen legen sie dem König eine riesige Karte vor. Wiederum ist der König unzufrieden. Erneut machen sich die Diener an die Arbeit. Erst als jeder noch so kleine Stein kartiert ist, gibt sich der König zufrieden. Die Diener rollen die Karte aus. Sie liegt exakt 1:1 auf des Königs Land und verdeckt es komplett. Und die Moral von der Geschichte? Mann könnte antworten, die Funktion einer Karte, nämlich durch Verallgemeinerung und Verkürzung Erkenntnisse zu ermöglichen, wird ad absurdum gestellt. Der König erkennt letztlich nichts. Er sieht nur, was eh da ist. Er ist nicht in der Lage mit Hilfe dieser Karte sein Land besser zu beherrschen und besser zu bestellen.
Auf unser Fachgebiet angewendet könnte man sagen, Diagnostik – als Verkürzungs- und Verallgemeinerungstechnik – ist notwendig, um (bspw. Hilfsbedarfe) zu erkennen, um das Kind besser zu fördern. Aber mit Adorno und Horkheimer sei geantwortet: „Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht aber sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.“ Beide reden letztlich dem Individuum/Individuellen, dem Unteilbaren, das Wort. Was will ich sagen? Das eine Pädagogik, die auf Inklusion – also der individuellen Differenz als Chance – setzt, sich vielleicht auch die Frage stellen sollte, in welche Richtung sie tendiert: Ein Mehr an Diagnostik oder ein Mehr an Individualität? Oder anders ausgedrückt: Kann der diagnostische, d.h. der verallgemeinernde Blick auf ein Kind, unter Umständen das Individuelle verdecken und damit Inklusion zuwiderlaufen? Vielleicht hat Schweden diese Frage schon für sich beantwortet und es gibt hier deshalb keine Kategorie „Lernen“.

...und ein Bild.
Unser heutiges Bildungssystem kommt mir vor wie eine Wüste, die man bestellt. Die Mittel sind spärlich. Also geht man systematisch vor. Man ist gezwungen möglichst effizient zu arbeiten. Man sät fein säuberlich, dicht an dicht. Dass kostbare Wasser wird abgemessen und über die Zeit verteilt den Pflanzen zugeteilt. Die Pflanzen die man erntet stehen schließlich in Reih und Glied. Sie sind bis auf wenige Ausnahmen ähnlich groß. Nach der Ernte werden sie auf dem internationalem Markt verkauft. Das Bildungssystem was ich mir wünsche ist ein Bildungssystem des Tropischen Regenwalds. Das Wasser läuft verschwenderisch über die Pflanzen hinweg, welche in alle Himmelsrichtungen sprießen. Es gibt große und kleine, riesige und winzige Pflanzen. Alles grünt. Das Auge findet vor lauter Üppigkeit der Vegetation keinen Halt.„Inklusion heißt: Die Schule bekommt genügend Ressourcen, um alle Kinder optimal zu fördern, und braucht nicht einzelne Kinder als ´behindert´ zu etikettieren, um Ressourcen zu erhalten.“ Was tät sich alles ändern, wenn man statt genügend Ressourcen, jegliche Ressourcen zugesprochen bekäme? Was wäre, wenn der Ökonomisierung die Verschwendung gegenüber gestellt werden würde? Diese unvernünftige Ineffizienz? Dieses wunderbar Unnötige? Dieses maßlos Große? Diese Buntheit der Dinge? Diese Vielfalt der Möglichkeiten? Dieses kreative Milieu? Diese reiche Betreuung? Würden Schüler und Lehrer nach 6 Wochen Schule immer noch innerlich das Handtuch schmeißen?

Bildquelle:   www.meta-evolutions.de





Donnerstag, 29. September 2016

Möge die Reise beginnen!

Ich bin Lehrer. Alle vier Jahre bekomme ich eine neue 7. Klasse und alle vier Jahre gebe ich eine, nein, meine 10. Klasse ab. Vier Jahre Beziehungsarbeit, vier Jahre gemeinsames Lernen, Leiden, Lachen, Erleben.
Zu jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin könnte ich mindestens eine Handvoll Anekdoten erzählen, ich könnte mit Freude davon berichten, wie jede/r einzelne von ihnen sich in entwickelt hat. Beim Abschied fühle ich meist eine Mischung aus Traurigkeit, Stolz, Wohlwollen und Nähe. Es fühlt sich schön an, die Kinder auf den Weg zum Erwachsenwerden begleitet zu haben, Teil ihrer Bildung im weitesten Sinne gewesen zu sein. Doch dann, immer wieder, beschleicht mich ein Gefühl der Unruhe. Bin ich all meinen SchülernInnen im Rahmen der Möglichkeiten, die Schule bieten kann, gerecht geworden?
Alle vier Jahre ist die Antwort die gleiche: die SchülerInnen mit Förderbedarf habe ich am wenigsten gesehen, am wenigsten bedacht, am wenigsten professionelle Unterstützung zukommen lassen. Zumindest fühlt sich das so an. Tatsächlich wurden diese SchülerInnen von mir oftmals auch nur betreut und beschäftigt. Unsystematisch. Aus dem Bauch und der Not heraus. Ein Wortsuchrätsel hier, ein Mandala da, Satzteile zusammenfügen, Wörter verbinden. Mir ist das zu wenig. Mir bin ich als ihr Pädagoge zu wenig. Und mit ICH meine ich tatsächlich mich. Es ist kein Schulproblem. Es ist mein Problem. Es ist mein Problem, dass mir 25 SchülerInnen einbrocken, mit ihren wilden, bunten Individualitäten.
Differenziere ich in meinem Unterricht für sie? Oh ja! Differenziere ich für jeden Einzelnen? Unmöglich! Mein Differenzieren ist also notgedrungen ein Differenzieren von der Mitte aus. Vom Durchschnitt. Das Gros der Klasse pendelt darum und fühlt sich deshalb in meinem Unterricht weitestgehend gut aufgehoben. Dann ist da noch die Spitze, sie wird ebenfalls in der Planung und Vorbereitung bedacht und am Schluss differenziere ich noch nach unten. Doch was ist mit denen, die Ihre eigenen Kreise ziehen? SchülerInnen mit Downsyndrom, Autismus und "Förderbedarf geistige Entwicklung"? Sie fühlen sich für mich als planender Lehrer so ex-klusiv an. Ich aber muss nicht nur, ich will die In-klusion!

Das schöne an vier Jahren Beziehung ist, dass man Verantwortung trägt und gestalten kann. Und weil dem so ist, erachte ich das Problem, von dem ich hier rede, auch nicht als Schulproblem. Es schmeckt zwar ein wenig danach, aber es bleibt meins, da bin ich mir sicher. Denn, ist es nicht auch meine Aufgabe, die Schule und ihre Strukturen, wenn sie sich als problematisch erweisen, nach meinen pädagogischen Überzeugungen mit- und umzugestalten?
Was ich dazu und im Sinne der Inklusion brauche, ist Input von Menschen, die sich eine entsprechende Expertise erworben haben. Ich möchte von Inklusions-Experten lernen, von LehrerInnen und SchülerInnen, von KollegInnen und gleichfalls von Büchern und Filmen, von Fachartikeln und - so es denn hilft - meinetwegen auch von Rollenspielen und dergleichen. Ich möchte Innehalten, mit Muße (nach)denken, Hilfreiches entwickeln, Prozesse starten.
In diesem Sinne und der Hoffnung auf Erfüllung meines Ansinnens, habe ich mich für eine einjährige Weiterbildung zur Inklusion angemeldet. Begonnen hat sie am 16.09.2016.
Eine unserer Aufgaben ist, ein Lerntagebuch zu schreiben. Ich habe mich diesbezüglich für die Form eines Blogs entschieden. Er bietet mir diverse Vorteile. Zum einen bietet er mir die Möglichkeit erhaltene Anregungen vor dem Verlorengehen zu bewahren, sie stattdessen strukturiert und vertiefend wiederzugeben. Zum anderen hilft er mir dabei, mich in meinem Lernprozess ständig selbst zu verorten. Vor allem aber habe ich dieses Format gewählt, damit interessierte KollegInnen von den Perlen, die uns in der Weiterbildung zu Füßen gelegt werden, profitieren können. Im Sinne der Inklusion, die viele Unterstützer mit Herz und Verstand benötigt, um gelingen zu können.
Bleibt mir nur zu sagen:  
Möge die Reise beginnen!