Samstag, 1. Oktober 2016

Mehr Diagnostik, nein danke!

Augenmerkkind. Das war ein Schwerpunkt der vorletzten Sitzung. 
Hierbei schlich sich folgender Gedanke bei mir ein: Was, wenn nicht nur wir Lehrer Augenmerkkinder haben, sondern auch die Gesellschaft Augenmerkkinder hat? Mit Wocken gesprochen könnte man sagen, dass die „Risikokinder“ in den Fokus der Gesellschaft gerückt sind. Was bedeutet das konkret?

Wocken stellt in seiner Untersuchung fest, dass – trotz steigender Inklusionsquote – keine echte Inklusion stattfindet.
Zwar steigt die Anzahl der SchülerInnen mit Förderbedarf an den Regelschulen (steigende Inklusionsquote), demgegenüber ist die Zahl der SchülerInnen an den Sonderschule aber weitestgehend konstant geblieben (gleichbleibende Seperationsquote). Das bedeutet, dass der relative Anteil der SchülerInnen mit Förderbedarf an der Gesamtheit aller SchülerInnen gestiegen ist. Rückschluss: RisikoschülerInnen werden mit Etikettierungen überschwemmt. Inklusion, verstanden als Würdigung des Indivuduums/ des Individuellens ist es demnach nicht – eher das Gegenteil.
In meiner letzten Hausaufgabe habe ich der Pädagogik, die sich die Inklusion auf die Fahnen schreibt, folgende selbstvergewissernde Frage in den Mund gelegt: „Das eine Pädagogik, die auf Inklusion – also der individuellen Differenz als Chance – setzt, sich vielleicht auch die Frage stellen sollte, in welche Richtung sie tendiert: Ein Mehr an Diagnostik oder ein Mehr an Individualität?“ Es scheint, als liefe es auf ein Mehr an Diagnostik hinaus. Der diagnostische Blick aber ist kalt, zielt auf Verallgemeinerung, auf Ausrichtung an der Norm, auf ein Handhabbarwerden des Diagnostizierten hin. Es fiel diesbezüglich der Begriff der positiven Diskriminierung. Diese ist und bleibt was sie ist: Diskriminierung. Als solche ist sie in Bezug auf das diskriminierte Individuum beschneidend, einengend, verkürzend, gewalt-ig. 
Hans Wocken verweist auf die absurde Vorstellung, dass durch Inklusion die Normalitätstoleranz verengt werden könnte. Meines Erachtens würde dies nichts anderes widerspiegeln  als die gesteigerte Angst unserer Gesellschaft vor dem Individuellen, vor der Andersartigkeit. 

Flüchtlingskrise, Terrorangst, Islamophobie, Etikettierungsschwemme von Risikoschülern – vielleicht bilden sie ein und dieselbe Linie? Vielleicht ist es kein Zufall, dass unsere Gesellschaft Schüler des Risikos genau jetzt in Augenmerk nimmt.


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