Dienstag, 29. August 2017

Noten? Bitte frühestens ab Klasse 9. (Teil II).

In einem Leserkommentar zu meinem Post "Noten? Bitte frühestens ab Klasse 9. (Teil I)" sowie dem auf Spiegel Online erschienenen Artikel "So könnte guter Unterricht gehen" wird Kritik an meiner Position gegen Noten geübt sowie für das Festhalten an Noten plädiert.

Ich nehme diese Kritik ernst und möchte mich ihr stellen.

Vorweg möchte ich jedoch Prof. Jörg Ramseger von der FU zu Wort kommen lassen. In seinem Interviewbeitrag in der Märkischen Allgemeine führt er von mir z.T. unberücksichtigte, gleichwohl geteilte Argumente für ein so spät wie mögliches Verwenden von Noten an.
Das System der Notenbeurteilung tut/ist seiner wissenschaftlich fundierten Meinung nach Folgendes. Es..:
  • ....beschädigt und entmutigt die, die es schwerer haben zu lernen.
  • ...ist Defizit-, statt Erfolgsorientiert.
  • ...führt zu Unterrichtsstörungen ("Störenfried").
  • ...ruiniert das Interesse an Inhalten, indem es das Ergebnis vor den Inhalt stellt.
  • ...ist damit die Ursache fehlender Motivation.
  • ...personalisiert das eigene Versagen, d.h. führt zu negativen Selbstbildnissen und -zuschreibungen.
  • ...suggeriert Präzision und Vergleichbarkeit, die es nicht bietet.
  • ...ist ungerecht, da es weder biologische Entwicklungsdifferenzen, noch die unterschiedlichen Lebensverhältnisse oder die Seite des Lehrenden berücksichtigt.
Prof. Ramseger legt diese Punkte in besagtem Interview etwas ausführlicher dar. Es lässt sich HIER nachlesen. 


Nun zum Leserkommentar, der unten oder bei entsprechendem Post komplett einsehbar ist.
Er konfrontiert mit folgenden Thesen.
  1. Die Verwendung von Noten weist auf ihren tieferen Zweck hin. 
  2. Das Weglassen von Noten führt zwangsläufig zu schlechterem Lernerfolg.
  3. Eltern verlangen Noten, um den Lernstand ihres Kindes zu erfahren.
  4. Kinder lernen der Noten halber, nicht zum Selbstzweck.
  5. Die SchülerInnen sollten mit ihrem tatsächlichen Wert für die Arbeitswelt beizeiten konfrontiert werden.

zu These 1:   Die Verwendung von Noten weist auf ihren tieferen Zweck hin.

"Lieber Herr Krüger,
es liest sich ein bisschen so, als seien Noten als Sanktion gedacht, als haben sie keinen tieferen Zweck. Sie haben aber einen Zweck, sonst würden Sie ja selber nicht in späteren Jahren ("ab Klasse 9") wieder damit arbeiten wollen."

Noten haben einen Zweck. Gar keine Frage. Oder vielmehr sind sie Mittel zum Zweck, dienen also einem Zweck.
In meinem ersten Post zu dem Thema verweise ich diesbezüglich auf Disziplinierung & Selektion. Prof. Ramseger weist in eine ähnliche Richtung, indem er Erzeugung eines Wettbewerbs sowie einer einhergehender Rangskala als Funktion der Noten anspricht.
Dass ich ab Klasse 9 wieder mit Noten arbeiten "möchte", hat jedoch nichts damit zu tun, dass ich an ihren "tieferen" Zweck glaube. 
Tieferer Zweck? Das klingt ein wenig nach guter Zweck. Was könnte das in diesem Sinne sein? Dass Noten eine Belohnung darstellen? Aber für wen und wie oft und v.a. wie oft auch das Gegenteil? Dass sie - mehr oder weniger objektiv (siehe früherer Post) - der Vergleichbarkeit dienen? Aber wozu? Für Wettbewerb, Rangfolge, Disziplinierung, Selektion, Fortschritt? Auf wessen Kosten?
Ich glaube an keinen tieferen, guten Zweck der Noten. 
Dass ich Noten ab Klasse 9 einführen würde, erklärt sich eher aus einer Notwendigkeit heraus. Die SchülerInnen müssen an das, was nach der Schule kommt, anschlussfähig sein. Und in den Übergängen von Schule zu Beruf oder Universitäten sind Noten gefragt. "So setzt zum Beispiel das Auslesesystem bei der Hochschulzulassung auf Noten" (siehe Ramseger). Aber nicht, weil es Noten so toll findet, sondern weil alles andere ökonomisch (und zwar zeitlich wie monetär) nicht vertretbar wäre. 
Im Übrigen greifen Unternehmen, wo sie es sich leisten können, viel lieber auf Assessment-Center (AC) zurück. Noten dienen hier lediglich einer Vorselektion. Weil sie aber so wenig über die Personen und ihre tatsächlichen Fähigkeiten aussagen, folgt eine tiefergehende Erfassung über ACs.


zu These 2:   Das Weglassen von Noten führt zwangsläufig zu schlechterem Lernerfolg.

"In Stuttgarter Gemeinschaftsschulen gibt es für untere Klassen wie von Ihnen gefordert keine Noten mehr, nur noch textliche Bewertungen. Das hat sich stark negativ auf die Lernerfolge der Schüler ausgewirkt, weil sie schlicht nicht wissen, was von ihnen *erwartet* wird. Das kommt dann plötzlich mit den Noten zurück (...)."

Was die Stuttgarter Gemeinschaftsschulen anbetrifft bin ich nicht im Bilde. Ich möchte aber erneut auf Prof. Ramseger verweisen, der die Skandinavischen Schulen anführt. Hier wird bis Klasse 8 auf Noten verzichtet, ohne dass die Lernergebnisse schlechter oder die skandinavischen Menschen später unproduktiver wären. Meiner Meinung kommt es darauf an, dass wir gute Alternativen zu den Noten entwickeln. Sprich, einen Teil unserer pädagogischen Kraft müsste in das entwickeln guter Feedbacksysteme gehen (siehe auch Hättie-Studie sowie Berliner Verbands der Gesamtschulen). 


zu These 3:   Eltern verlangen Noten, um den Lernstand ihres Kindes zu erfahren.

"Die Eltern hier *verlangen* bereits vom Lehrpersonal, die Textbewertungen zurück als Note zu übersetzen, damit sie und ihr Kind einen Lernstand haben."

Zwei Dinge hierzu.
Ersten, 
die textlichen Bewertungen müssen verständlich, motivierend und aussagekräftig sein. Sind sie es nicht - keine Frage - dann taugen sie nicht.
Zweitens, 
und jetzt möchte ich eine nicht ganz unbrisante These wagen, sollten wir uns in unserer pädagogischen Arbeit nicht zu sehr von den Eltern treiben lassen. Natürlich müssen die Eltern verstehen können, was wir LehrerInnen aus welchen Gründen heraus machen, aber sie müssen es nicht unbedingt teilen. 
Eltern kennen die Schule meist aus der Zeit, in der sie selbst SchülerInnen waren. D.h. in der Regel kennen sie eine Schule von vor min. 20 Jahren. Sie sind höchstwahrscheinlich mit den aktuellen pädagogischen Strömungen, geschweige denn den pädagogischen Diskursen nicht vertraut. 
Zudem lassen sich Eltern stark von Ängsten treiben. Wird mein Kind seinen Platz in der von Wettbewerb gekennzeichneten Arbeitswelt finden? Wird es sich behaupten können? Diese Ängste werden nicht selten in Form von (Leistungs-)druck an die Kinder weiter gereicht. Die Realität der Arbeitswelt (Wettbewerb und Selektion) wird sich nicht selten (auch unbewusst) in die Schulrealität gewünscht. Konsequenter Weise werden von diesen Eltern Noten gefordert. 
Die pädagogischen Profis sind aber nicht die Eltern, sondern die LehrerInnen. Wie man dem Elektriker, dem Arzt und dem Mechaniker vertraut, sollte man auch den Lehrkräften vertrauen. Man sollte sie eine Schule entwickeln lassen, die - zwar keine in sich geschlossene Blase - aber doch eine Art Schutzraum für die SchülerInnen darstellt, in dem sie sich noch nicht vollends den Mechanismen unserer Arbeitswelt hinzugeben haben. Die Schule sollte ein Raum für Entwicklung und Begegnung von Persönlichkeiten sein, weniger ein Raum des Vergleichs von Leistungsträgern.


zu These 4:   Kinder lernen der Noten halber, nicht zum Selbstzweck.

Wirklich? Ich beobachte das bei meinem vierjährigen Sohn ganz anders. Er saugt quasi alles Neue wissbegierig in sich auf. Probiert und testet, fragt und ahmt nach. Ganz von sich aus. Ja, er sucht auch den Vergleich zu anderen. Noten bekommt er für sein Handeln selbstredend nicht. Feedback und Lob dagegen schon. 
Kinder lernen der Noten halber, nicht zum Selbstzweck? Hm, vielleicht werden hier Ursache und Folge bzw. Sympthom vertauscht. Vielleicht lernen notengedrillte SchülerInnen nur noch der Noten halber. Ist es vielleicht das, was Prof. Ramseger meint, wenn er sagt: "Noten sind nicht die Lösung, sondern die Ursache für fehlende Motivation: Je länger die Kinder zur Schule gehen, desto mehr lernen sie, dass es in der Schule primär gar nicht um die Inhalte geht, sondern nur um das Ergebnis." Also Noten.


zu These 5:   Die SchülerInnen sollten mit ihrem tatsächlichen Wert für die Arbeitswelt beizeiten konfrontiert werden.

"Die Firmen hier beobachten seit Jahren ein sinkendes Niveau, das von den Schulen kommt. Sie müssen selbst viel mehr aussortieren. Ist es für das Kind nun besser, wenn dieses Nicht-gut-genug-Erleben erst kommt, wenn die Ausbildung ansteht? Ich denke nicht."

Wow! Glasklarer lässt sich eine ökonomisch orientierte Pädagogik gar nicht in Worte kleiden. 
Ich bin jedoch kein Verfechter einer primären Ausrichtung von Schule nach den Verhältnissen der Arbeitswelt. Nochmals, Schule sollte sich v.a. nach den Bedürfnissen der ihr (zwangsmäßig!) Anvertrauten richten. Sie sollte Raum für Entwicklung und Begegnung von Persönlichkeiten sein. Dass die SchülerInnen Dinge lernen sollen, die sie später in der Arbeitswelt bestehen lassen, keine Frage! Nur ist mir ein/e SchülerIn lieber, die selbstbewusst (d.h. ihrer/seiner Fähigkeiten, Stärken, Potentiale, Wünsche, Träume, Eigenschaften, Lernfelder, Schwächen bewusst) und mit breiter Brust hoffnungsvoll die Schule in Richtung Arbeitswelt verlässt, als ein/e SchülerIn, die/der Rückhalts-los, gebeugt, beschämt, sich (seit Jahren) minderwertig fühlend in die Arbeitswelt hineinsackt. Sollen wir dem Einzelnen ernsthaft so früh wie möglich klarmachen (d.h. auch ihm keine wirkliche Entwicklung zutrauend), wie wenig er kann? Ihn gleichsam an sein prognostiziertes Versagen gewöhnen? Welch pädagogischer Irr(/-sinn?)weg!


Abschließend ein kleiner Perspektivwechsel.
Man stelle sich vor, alle paar Wochen würde uns unser Arbeitgeber öffentlich einsehbar benoten. Oder aber, er würde alle paar Wochen mit uns ins Gespräch kommen, was wir können, leisten, wollen und wo wir uns vielleicht weiterbilden könnten/sollten, um unsere Ziele zu erreichen. Die meisten von uns würden wahrscheinlich eine Behelligung egal ob in die eine oder in die andere Richtung als Zumutung empfinden. Aber sagen wir die Alternativen wären tatsächlich gegeben und realistisch. Wer von uns wäre für Variante Nummer 1?

Donnerstag, 27. Juli 2017

Noten? Bitte frühestens ab Klasse 9. (Teil I).

Acht Fakten, die man in diversen Medien nachlesen kann, lassen aufhören!

A) Ein Freiburger Student bekommt zwei verschiedenen Noten für exakt die gleiche Hausarbeit.
Einmal 5 Punkte - also gerade so bestanden - und einmal 9 Punkte, also "befriedigend" (Spiegel Online 2017).

B) Jungen bekommen in allen Fächern bei gleicher Kompetenz schlechtere Noten als ihre Mitschülerinnen - sagt eine neue Studie des Aktionsrates Bildung und bestätigt damit ein Ergebnis, zu dem auch eine Untersuchung des Bundesbildungsministeriums gekommen ist (Spiegel  Online 2009).

C) Kinder mit Namen Kevin, Justin, Mandy oder Chantal werden von LehrerInnen mit hoher Wahrscheinlichkeit benachteiligt (Tagesspiegel 2009).

D) "Ich benote nach Sympathie", gesteht eine Lehrerin ganz offen und begründet das auf interessante Art und Weise (Spiegel Online 2014).

E) SchülerInnen aus bildungsfernen Familien bekommen bei gleicher Leistung häufig schlechtere Noten als SchülerInnen höherer Schichten (Tagesspiegel 2012).

F) Die Noten eines Kindes hängen häufig davon ab, in welcher Klasse es zufällig gelandet ist (Süddeutsche Zeitung 2012).

G) Unser Bildungssystem erzwingt, dass es SchülerInnen mit schlechten Noten geben MUSS (Süddeutsche Zeitung 2012).

H) Noten sind defizitorientiert (Welt 2017).

Wenn man über diese acht Headlines hinaus die Artikel liest, dann ließe sich zusammenfassend sagen: Noten sind ungerecht und der Entwicklung junger Menschen abträglich.
Doch warum halten wir dann noch immer so starr an Noten fest? 
Zwei Thesen seien hier gewagt:
  1. Um SchülerInnen - im Wechselspiel mit den Eltern - zu disziplinieren. 
  2. Um dem Grundcharakter unseres Schulsystems Rechnung zu tragen - der Selektion.
Ich will diese zwei Thesen hier nicht untermauern. Stattdessen möchte ich - ihre Stimmigkeit voraussetzend - festhalten, dass beide Gründe auf einen Sachverhalt hinweisen, der uns stark zu denken geben sollte: Noten sind nicht im Sinne der SchülerInnen gemacht.

Ich möchte das etwas am Beispiel der Inklusion vertiefen.

Im Grunde haben wir LehrerInnen drei Möglichkeiten zu zensieren.
a) Nach der Leistungsnorm.
Hochsprung in der Schule. SchülerInnen, egal ob groß oder klein, schwer oder leicht, aus Elternhäusern mit hohem oder niedrigem Bewegungsangebot, müssen in die Höhe springen. Benotet wird nach meist schulübergreifenden, manchmal bundesweit geltenden Leistungsnormen. Einsehbar auf der Tabelle in den Händen des/der jeweiligen SportlehrerIn. Note 4? Mindestens 1,10m. Für wen? Für jeden gleich, also für ALLE. 
b) Nach der Sozialnorm.
24 Schülerprodukte liegen auf dem Tisch. Der Lehrer schaut alle Produkte durch und bildet schließlich drei Stapel: links die am besten gelungenen, rechts die am wenigsten überzeugenden und in der Mitte die Produkte einer gewissen Mittelmäßigkeit. Die Noten für die Produkte werden nach der Sozialnorm gebildet, d.h. nach der jeweiligen Abweichung vom Klassendurchschnitt. 
c) Nach der Individuellen "Norm".
Ein Schüler mit großen Lernschwierigkeiten hat in einer Stunde aus einer Liste mit 10 Vokabeln sich vier merken können. In jedem normalen Test hätte er für dieses Ergebnis die Note 5+ bekommen (40% = 3 Notenpunkte). Dieser Schüler konnte sich bisher aber stets nicht mehr als zwei Vokabeln merken, hat sich in seiner Leistung also geradezu um das Doppelte gesteigert. Der Lehrer gibt dem Schüler deshalb eine gute Note. Er honoriert damit den Fleiß und die - für den Schüler - regelrecht außergewöhnliche Leistung. 

Man stelle sich vor, man hat eine Schülerin mit geistiger Behinderung in der Klasse, hinzu noch einen körperlich behinderten Schüler sowie drei SchülerInnen mit Förderstatus Lernen. Welcher der drei Möglichkeiten zur Leistungsbewertung wird diesen SchülerInnen am ehesten gerecht? Welche Möglichkeit gibt am meisten Motivation? Welche beschämt am wenigsten? Und welche erfasst am besten, was der/die jeweilige Schüler/in tatsächlich geleistet hat? 
Diese SchülerInnen werden im deutschen Bildungssystem zwar nach gesonderten Maßstäben zensiert, sie machen aber am besten deutlich, wie hinderlich, ja fast schon absurd, die ersten beiden Bewertungsmöglichkeiten wären, denn diese SchülerInnen würden - bis auf wenige Ausnahmen - IMMER zu den VerliererInnen gehören. Man denke sich nun die Gruppe der leistungsschwächeren SchülerInnen aufgrund bildungsferner, sozial schwierigster Elternhäusern hinzu. Wird unser tradiertes Bewertungssystem diesen SchülerInnen gerechter? Drängt sich die Frage auf, wer eigentlich die Gewinner dieses Systems sind. Nichtbehinderte Kinder aus dem Bildungsbürgertum! Man fühlt sich an BORDIEU und den Begriff des kulturellen Kapitals erinnert...
Bleibt die Leistungsbewertung nach der Individuellen Norm. Hier drängt sich eine andere Frage auf: Wenn ich mich auf die individuelle Leistungsentwicklung eines Kindes beziehe, warum sollte ich diese Entwicklung ausgerechnet mittels einer Note festhalten wollen? Warum Noten? Die individuelle Leistung steht ja v.a. erst einmal für sich. Kein Zwang zum Vergleich, lediglich im Sinne des eigenen Entwicklungsprozesses. Statt Noten könnte man dann tatsächlich auch Farben verteilen (siehe Blogeintrag "Farbe bekennen")

Noten sind ungerecht! Einige Berliner Schulen haben das erkannt und sich vernetzt. Sie gehen einen neuen, einen anderen Weg. Bis zur neunten Klasse verzichten sie auf Noten. Zusammen wollen sie ein einheitliches Konzept der Leistungsbewertung erarbeiten, das auch von anderen Schulen als Alternative zum derzeitigen Noten- und Punktesystem anerkannt wird. Der stellvertretende Vorsitzender des Berliner Verbands der Gesamtschulen (GGG) gibt diesbezüglich ein bemerkenswertes Interview.  

Ein wesentlicher Punkt wird in der Debatte um Noten meines Erachtens jedoch nicht bedacht:
Wenn wir Noten - als Hilfsmittel einer effizienten Selektion ablehnen - warum sollten wir dann an Gymnasien - als Aushängeschild eben jener Leistungsselektion - so unnachgiebig festhalten?

Donnerstag, 6. Juli 2017

Der Schüler ist von Natur aus gut.

Hobbes - Leviathan
Es gibt zwei philosophische, sich widersprechende Positionen zur moralischen Natur des Menschen.
Die eine spiegelt sich in den Worten von Thomas Hobbes wieder: Homo homini lupus est. Der Mensch ist des Menschen Wolf.
Die andere findet sich bei Jean-Jaques Rousseau: Der Mensch ist von Natur aus gut.
Unabhängig davon, inwiefern sich die Natur des Menschen überhaupt bestimmen lässt und welche moralischen Kriterien der jeweiligen Position zu Grunde liegen, als Arbeitshypothesen bieten beide Positionen allerhand Erkenntnispotential - gerade auch in Bezug auf Schule.

Der Mensch ist des Menschen Wolf. Dieser Position liegt v.a. das Prinzip ANGST zugrunde. Die Zivilisation, die Kultur, die Schule gilt hier als Rettung. Ihrer bedarf es, um den Menschen zu bändigen, zu zügeln, zu begrenzen und zu zähmen. 
Eine Schule, die dieses Bild favorisiert, sieht im Schüler als Menschen eine Bedrohung. Ihn gilt es in die Spur zu bringen, zu disziplinieren, zu erziehen. Eine solche Schule setzt folgerichtig auf Ordnung, Bestrafung, Belohnung und Normierung. Etwas zu leisten, d.h. nach gesellschaftlichen Bewertungsschemata zu funktionieren, ist ihr oberstes Gebot. Das Bildungs-SYSTEM ihre Grundlage.

Ganz anders die zweite Position. 
Der Mensch ist von Natur aus gut. Erst die Gesellschaft macht ihn schlecht. Diese Sichtweise Rousseaus wendet sich dem Menschen mit dem Glauben an ihn, d.h. voll HOFFNUNG zu.
Eine Schule, die dieses Bild favorisiert, sieht im Schüler als Menschen das grundsätzlich Gute. Sie versucht dieses Gute zu bewahren, zu schützen, zur Entfaltung zu bringen. Nicht Strafe und Ordnung stehen im Fokus, sondern Schutz und Fürsorge. Eine solche Schule gibt ihren Schülern primär keine Antworten, sondern stellt ihnen vor allem Fragen - Nach ihren individuellen Bedürfnissen. Nach ihren jeweiligen Interessen und Fähigkeiten. Nach ihren konkreten Ängsten und Hoffnungen. Nach ihren Nöten und Lebensverhältnissen. Eine solche Schule vermisst ihre Schüler nicht nach ihren Leistungen, die die Gesellschaft als solche definiert. Vielmehr schafft sie zahlreiche FREI-Räume zur Entfaltung - unter Umständen auch wilder - Individualität. 
Sie richtet zudem ihren Blick kritisch auf Gesellschaft und damit letztlich kritisch auf sich selbst. Sie begrenzt sich folgerichtig, anstatt maßlos und übergriffig zu sein. Sie achtet Transparenz statt Abschottung, Flexibilität statt Starrheit, Partizipation statt Hierarchie, Inklusion statt Aussonderung. Ihr Fundament ist mehr MILIEU denn System.

Schauen wir kritisch auf die Schulen unseres Landes, was sehen wir? Sehen wir eher Hobbes´sche oder eher Rousseau´sche Schulen? Dominiert das Prinzip Angst oder das Prinzip Hoffnung? Forcieren wir Leistungsnormierung oder ermöglichen wir Individualität? 

Und unabhängig davon was wir sehen, was überhaupt wollen wir? 











Freitag, 2. Juni 2017

Mein Leitspruch für gelingende Inklusionsarbeit

"Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern." 

(ERNST BLOCH)

Das ist es! Dieses Zitat sollte sich meines Erachtens jede Schule auf ihre Fahnen schreiben. Entgegen aller Totschlagargumente derer, deren Glas stets halbleer ist. Entgegen aller Widerstände, die beispielsweise in Sätzen daherkommen, wie: "Das haben wir schon immer so gemacht.", "Dafür fehlen die Ressourcen.", "Nicht mit diesem Senat.", "Kann nicht klappen.", "Alter Wein in neuen Schläuchen.", "Irgendwann reicht´s auch." 
Ins Gelingen verliebt sein! Das ist schön! Das Glas halbvoll sehen und jeden einzelnen Schluck genießen. In vollen Zügen denken! Mit aller Kraft an den riesigen Tauen des trägen Tankers Schule zerren! Die Chance feiern und das Wünschenswerte zur Maxime erheben! 
Denken. Handeln. Wege gehen. Wollen.

Inklusion. In Deutschland keine Kann-Option. Sie ist Pflicht. LehrerInnen müssen sich ihr stellen, ob sie wollen oder nicht (siehe von Deutschland unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention).
Mit John F. KENNEDY gesprochen, könnte man aber auch fragen:

"Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?"



Bildquelle:    https://s-media-cache-ak0.pinimg.com/236x/ac/28/27/ac282750fedbf5a40272d2e9c986e811.jpg,  
                       06.07.2017, 01:03 Uhr.


Mittwoch, 31. Mai 2017

Rütli Campus II

Lernen von den Besten

Am 19.05.2017 hospitierte ich erneut in der 10. Klasse von Frau S. und Herrn L., 3./4. Stunde, Deutsch. Auch dieses Mal war die Doppelstunde äußerst smart konzipiert. All die positiven Dinge (schülernahes Thema, hohe Relevanz, fächerübergreifender Ansatz, schnelle Aktivierung, Ermöglichen von Erfolg, Spiel mit der Sprache, Kompetenzorientierung, Effizienz, Vorbildwirken, Selbstreflexion) die ich in meinem letzten Bericht erwähnt habe, trafen wiederholt zu. Es scheint, als seien sie Teil eines sehr gut verstanden Handwerks.
Um mich in dem vorliegenden Bericht nicht zu wiederholen, habe ich beschlossen, mich vom Unterrichtsgeschehen zu lösen und den Fokus noch stärker auf Herrn L. zu legen, der in dem Dreier-Team (Lesepatin, zweite Fachlehrerin Frau S., er) die offensichtlich führende Person ist. Ich möchte einen etwas genaueren Blick auf diejenigen seiner „Techniken“ legen, die den Unterricht meines Erachtens sehr positiv beeinflussen.
Des Weiteren möchte ich mich erneut zur Schulentwicklungsarbeit am Rütli-Campus äußern. Basis hierfür bildet das sich an den Unterricht anschließende Gespräch, in dem sich Herr L. Zeit für unsere Fragen nahm.

Zu 1. „Techniken“ des Herrn L.

„Okay. Und nun mal eine ehrliche Antwort! Was denkt Ihr wirklich.“

Gefragt hatte Herr L. wie die SchülerInnen das Schulfest fanden. Ein Schüler war zu Wort gekommen. Seine Antwort war brav, erinnerte ein wenig an die Floskeln von Fußballprofis, die niemandem wehtun wollen, aber auch keinen berühren. Nach dem Impuls des Lehrers schnellten plötzlich mehrere Arme hoch, offensichtlich hatte er einen Nerv getroffen. Der Subtext seines Impulses war: Ich will wissen, wie es wirklich in Euch aussieht. Das nehme ich ernst, das hat Wert! Schüler ernst nehmen, Meinungen aushalten, die politisch nicht korrekt, manchmal sogar recht grob sind - wie fruchtbar kann das sein! Ich als Gast jedenfalls erhielt wichtige Hinweise darauf, was an dem Fest unrund lief, wo man in Zukunft also mit den SchülerInnen gemeinsam ansetzen könnte.


In eine ähnliche Richtung weist auch folgender Dialogausschnitt, der sich später in der Stunde zutrug.

L.: „Ist das okay für Dich?“
S.: „Alles was sie wollen!“
L.: „Wow, was für eine Antwort!“ 
- seine Stimme zeichnet eine gehobene Augenbraue nach -
„Es lebe die Demokratie!“

Auch hier ein deutliches Signal an die SchülerInnen: Seid kritisch! Seid selbstbestimmt! Redet niemandem nach dem Munde! Bildet Euch Eure eigene Meinung! Werdet mündig! Steht zu Euch! Das hat Wert!
Man fühlt sich an Kant und den Leitspruch der Aufklärung erinnert. Erziehung zur Demokratie (wenn es so etwas gibt), Erziehung mündiger Bürger - hier findet es seinen Platz. Nicht extrahiert im Fach Ethik, sondern eingebunden in die alltägliche Beziehungsarbeit mit den SchülerInnen.


Mündigkeit. Dieses Thema zieht sich durch den Unterricht wie ein roter Faden.

„Was könnte jetzt Eure Aufgabe sein?“

Immer wieder stellt Herr L. den SchülerInnen die Frage, welcher Arbeitsschritt jetzt sinnvoller Weise folgen könnte. Er zwingt sie aus ihrer in Schule so gewohnten Rolle des Unterrichtskonsumenten herauszutreten, mitzudenken und dem eigenen Handeln Sinn zu geben. Er stellt die Sinnfrage bzw. die Sinn stiftende Frage. Das aktiviert die SchülerInnen. Sie nehmen die Herausforderung an. Natürlich ist es so, dass sie z.T. auch gewohnt sind zu antizipieren, welcher Schritt jetzt tradierter Weise sinnvoll wäre. Das Material von Herrn L. liegt ja schon griffbereit zur Hand, die Flexibilität dadurch von Vornherein begrenzt. Ganz so frei sind sie im Folgen ihres eigenen Sinns also nicht. Aber, Herr L. ist hier viel weiter als viele andere LehrerInnen Berlins, deren Unterricht sich zu großen Teilen - methodisch durchaus innovativ - regelrecht über die SchülerInnen ergießen.


Erdogan besuchen.

Dieser Wunsch findet sich neben anderen Wünschen zur Wandertagsgestaltung auf einem großen Plakat im Klassenzimmer. Er hat hier seinen Platz. Ich kenne die Geschichte um diesen Satz herum nicht, aber ich bin mir sicher, dass Herr L. ihn ohne moralischen Zeigefinger schwingend hat notieren lassen. Ganz dem Motto: Eure Meinung ist wichtig! Steht zu dem was ihr fühlt! Habt Mut Euch zu äußern! Macht Euch stark für Eure Wünsche, Eure Gefühle! Das hat Wert! Ihr habt Wert!

Ihr habt Wert! Qua dessen, dass ihr seid! Qua dessen, dass ihr Euer Sosein in die Welt tragt, sie bunt werden lasst! Und nicht, weil ihr genügt, weil ihr gehorcht, weil ihr funktioniert, weil ihr erfüllt, weil ihr leistet. (Wie spürbar die Diskrepanz zwischen geschriebenem Wort und gewöhnlichem Schulalltag!)
Wir sollten mit SchülerInnen wertschätzend umgehen. Okay. Fragen wir aber auch nach ihren Werten? Nach den Dingen, die ihnen wichtig sind? Nach dem Wert unserer Unterrichtsinhalte für sie (nicht für ihren Abschluss oder curriculare Vorgaben)? Wie oft fragen wir uns, ob unsere Be-Wertung auch wert-schätzend ist? Wie oft gehen wir mit uns hart ins Gericht, wenn unser Verhalten ent-wertend war?


Herr L. möchte ein Feedback. Er nimmt fast jeden blitzlichtartig dran. Zeit, ca. 2 Minuten.

Von der aktivierenden Funktion dieser Lehrerhandlung, was könnte sie darüber hinaus bewirken?
Ich glaube, dass sie dazu führt, dass sich die SchülerInnen erneut gesehen fühlen. Oftmals wird ein Feedback erwünscht, nach zwei, drei Meldungen aber ist der/die Lehrer/in zufrieden und es geht weiter im engen Rhythmus der Schule. Aber was ist das für ein Feedback, was sich nach zwei, drei Meldungen erschöpft? Ist das nicht so, als ob wir auf dem Elternabend ein Feedback einholen und sich nur die Elternvertreter zu Wort melden würden? Was ist mit den womöglich Müden, den Frustrierten, den Träumern, den Kreativen, den Desinteressierten, den Überforderten, den Unterforderten, den kulturell Barriere-ten, den Lustlosen, den Schlafmützen, den Nörglern, den …, die alle nicht zu Wort gekommen sind? Lebt ein Feedback von Vielfalt? Lebt Unterricht von Feedback? Lebt Unterricht von einem vielfältige Feedback? Laut HATTIE JA!


Herr L. zählt laut, wie viele sich melden.
Herr L. führt Redelisten: „Erst Manja, dann Ali, dann Max, dann Zeynep!“ (Namen geändert).

Ein großer Nachteil von Frontalphasen im Unterricht ist, dass auf eine Frage stets auch nur ein Person zur gleichen Zeit antworten kann (Das ist bei der Fishbowl-Methode ganz anders). Eine/r von X. Eine/r von bspw. 24. 1/24! 4 Prozent. Wow, wie frustrierend! Als SchülerIn ist die Chance sich äußern zu dürfen, also extrem gering. Macht melden da noch Sinn?
Herr L. federt diesen widrigen Umstand ab. Erst zählt er laut, wie viele sich melden, um derart so viele SchülerInnen wie möglich zu einer mündlichen Äußerung zu bewegen. Dann belohnt er ihr Melden durch eine Sicherstellung des Dran-genommen-werdens. Derart bleiben die Schülerinnen, die sich gemeldet haben auch beim Geschehen, verfolgen das Unterrichtsgespräch. Die Redeliste lässt aus 4 Prozent Wahrscheinlichkeit 100 Prozent Sicherheit werden. Macht melden unter diesen Umständen Sinn? Keine Frage, das tut´s!


„Ihr habt Eure Meinung kund getan. Aber, anhand welcher Beispiele könnt ihr diese Meinung belegen? Nennt Beispiele!“
„Passt deine Antwort zu dem, was SchülerIn X gerade gesagt hat?“

Zwei Impulse. Ein Anliegen. Hin zum nächsthöheren Anforderungsbereich!
Es war schön zu sehen, wie Herr L. immer wieder seine SchülerInnen dazu auffordert, sich nicht in Ein-Wort-Antworten zu erschöpfen. Im Gegenteil, er fordert sie heraus. Vertiefung, Transfer, Verknüpfungen, In-Bezug-Stellen, Begründen, usw.


Ein paar rote Linien auf dem ganz normalen Arbeitsblatt.

Inklusion unter diesen Umständen - niemals! Differenziertes Arbeitsmaterial - wann soll ich das noch schaffen! Herr L. arbeitet unter diesen Umständen. Er macht das inklusiv. Differenziert hat er auch. Mittels ein paar roter Linien. Geschätzter Arbeitsaufwand hierfür ungefähr zehn Minuten. Rote Linien als Orientierungshilfe, als Arbeitserleichterung, als Textreduzierung, als eingebaute Erfolgsaussicht für die SchülerInnen mit Status Lernen (Warum schreibe ich den Status auf. Spielt er eine Rolle?).


Auf den Tischen liegen Briefumschläge A4.

In den Briefumschlägen liegt das Material für die SchülerInnen. Sicherlich dienen Herrn L. die Briefumschläge auch dafür, bei Gruppenarbeit Herr über das vielfältige Material zu sein (Ordnungsfunktion). Weit interessanter finde ich aber den angenommenen psychologischen Wert. Briefumschläge suggerieren eine Adressaten-Gerichtetheit. Ups, ein Briefumschlag. Für mich? ich will es nicht überbewerten, aber auf mich haben derlei Umschläge unterschwellig motivierenden, ansprechenden Charakter.


„Immer begründen. KOMMA WEIL. Immer begründen!“

Wahrscheinlich können die SchülerInnen von Herrn L. diesen Satz schon singen. Schön für sie, denn in den Prüfungen oder bei Bewerbungsschreiben werden Ihnen derlei verinnerlichte Merksätze sicherlich dienlich sein. Gleiches gilt für:


„Warme Dusche, kalte Dusche“.

Diese Sprachbilder stehen für das Feedback geben. Warme Dusche, kalte Dusche meint erst das Positive, dann das zu Verbessernde nennen. Sprachbilder dienen hier also als Trigger, als Codes für Handlungsabfolgen. Das ist lernpsychologisch gesehen bestimmt sehr effizient.


„Yallah. Hm, wie das geschrieben wird? Schau mal nach, ob das im Duden steht.“

Verknüpfung der Lebens- und Sprachwelt mit Lern-/ Kulturtechniken. Auch hier ist der Schüler oder die Schülerin wertgeschätzter Ausgangspunkt seines/ ihres Lernens.


Die für mich interessanteste Technik zum Schluss. Sie scheint mir psychologisch äußerst klug.
Herr L. beendet die Stunde mit einem Lob an die gesamte Klasse, dann wird noch etwas differenzierter gelobt. Den SchülerInnen bekommt das gut, das ist zu spüren. Das Interessante daran, die Stunden ist noch gar nicht zu Ende. Im Anschluss an das Lob stellt Herr L. noch eine inhaltliche Frage. In ihr mündet sein Unterricht. Es fühlt sich an, als ob die gesamten Doppelstunde nur auf diese Frage hin ausgerichtet war. Die Stunde erreicht von der Stundenprogression her ihre höchste Stufe. Die SchülerInnen werden aufgefordert einen Transfer zu bilden. Mit dem Lob im Rücken schnellen mehrere Finger empor. Fantastisch.


So viel zu den Techniken und Kniffen von Herrn L.
Partizipation, Transparenz, Wertschätzung, Feedbackkultur. All das findet sich hier wieder. Wohltemperiert, maßvoll, umsichtig, zielfokussiert. Erneut muss ich an HATTIE denken. Auf den Lehrer kommt es an! Wie Recht er doch hat...



Zu 2. Schulentwicklung am Campus Rütli

Schon in meinem ersten Bericht bin ich auf die Schulentwicklungsarbeit an der Rütli eingegangen. Im an die Doppelstunde Deutsch anschließenden Gespräch mit Herrn L. war sie erneut Thema. Folgende Dinge finde ich erwähnenswert:

  1. Pilotprojekte - Herr L. berichtete darüber, dass mehrere KollegInnen seiner Schule sich für die Abschaffung von Noten interessieren. Zwei von ihnen dürfen nun in einem Pilotprojekt ihre Ideen notenfreien Lernens umsetzen. Als Pioniere sammeln sie Erfahrungen und lassen diese über eine Evaluation ins Gesamtkollegium einfließen, das dann zu einem späteren Zeitpunkt darüber diskutiert, ob die ganze Schule sich in diese Richtung aufmachen sollte. Diese Praxis finde ich derart anregend, dass ich am liebsten gleich an diese Schule wechseln möchte.
  2. Evaluation - Dieses Verfahren scheint an der Rütli zur Arbeitskultur dazuzugehören. Herr L. erzählte u.a., dass der Fachbereich GW die Arbeit mit den Kompetenzrasterheften - die im Fachbereich als Team erarbeitet wurden - ausgewertet hat. Dabei wurden Fehler, Sackgassen und Erfolgsbarrieren erkannt, die der Fachbereich nun versucht zu beheben. Das nenne ich professionelles Arbeiten.
  3. Kompetenzausrichtung - Schon die Kompetenzrasterhefte zeigen den Stellenwert, dem man den im Rahmenlehrplan verankerten Kompetenzstufen beimisst. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt Schulen in denen eine nicht kleine Zahl an LehrerInnen Kompetenzen mit dem Satz abtut: „Alter Wein in neuen Schläuchen!“, um dann so weiter machen zu können wie bisher. An der Rütli nimmt man sich im Fachbereich GW des Themas voll an. Herr L. berichtete, dass man den neuen Fachbrief Nr. 26 „Leistungsbewertung“ als Grundlage genommen hat, um unter der Fragestellung „Was sollen unsere SchülerInnen können müssen?“ Leistungskontrollen zu konzipieren. Von diesen Konzepten ausgehend erschlossen sich die Inhalte. Bewusst wurde hier also mit dem gewöhnlichen Weg gebrochen - erst der Inhalt, dann der Test. Nein, hier hieß es: erst die Kompetenz, dann die Standards, dann die Themen/Inhalte. Das „Pferd wird hier also von hinten aufgezäumt“. Wird es gar besser gezäumt? Es gibt Unterricht, der spannend und gut ist und gleichzeitig hinsichtlich der Kompetenzorientierung mit nur geringer Wirkung. Der Weg der Rütli könnte vielleicht beides vereinen.




Dienstag, 30. Mai 2017

Trainiert uns in Kommunikation!

Mit einer meiner Lerngruppen bin ich zu Gast in einer anderen Schule, wo wir deren Sporthalle nutzen dürfen. Auf dem Weg zu den Mädchenumkleiden haben zwei "meiner" Schülerinnen (13 Jahre) eine vorbeilaufende Grundschülerin bedroht. Sie dürfe nicht in das obere Stockwerk gehen, wo wir Sport haben, da dort ein ein Verrückter auf sie warte, der ihr Gewalt antun würde. Danach wurden sie handgreiflich, rüttelten das Mädchen an ihren Schultern gepackt kräftig durch und drohten ihr erneut. 
Der "Fall" landete bei mir, als eine besorgte Lehrerin der Grundschule mitten im Unterricht auf mich zutrat und um Klärung des Vorfalls bat. Ich brach den Unterricht ab. Dann Zeugenbefragung und so weiter. Nach Klärung der Sachlage führte ich den Unterricht fort, an dessen Ende ich die beiden Mädchen zur Rede stellte. Was sich in diesem Gespräch zutrug war unglaublich! Es war der Prototyp eines Konflikt-Gesprächs zwischen Lehrer (mir) und einer der beiden Schülerinnen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommt. Das Gespräch strukturierte sich in vier Phasen:

1. Leugnen (Lügen, Abstreiten)
"Ich?" - ungläubiges Gesicht, nahe am Entsetzen. "Ich, ich habe nichts gemacht!" Diese Phase allein finde ich jedes Mal auf´s Neue hochgradig beschämend, befremdlich und unglaublich rätselhaft. Man kann es förmlich fühlen, wie sehr hier von der Wahrheit abgerückt wird und schlimmer noch, man fühlt auch, dass es der Gegenübersitzenden ganz ähnlich ergehen muss. Diese Diskrepanz zwischen Mimik, Gesagtem einerseits und der Tat andererseits, sie schreit zum Himmel! Es ist ein schamloses Ins-Gesicht-Lügen und irgendwie auch eine beeindruckende schauspielerische Leistung. Sie gefährdet die in Schule von Schülern und Lehrern gemeinsam umhegte und so überaus kostbare Pflanze namens Vertrauen. 

2. Bagatellisieren
Ein Pokerface ist immer ein Face auf Zeit. Früher oder später bekommt es im Angesicht der kalten Fakten kalte Füße. Dann folgt Phase 2. 
"Ja, okay, ich war dabei. Die Grundschülerin kam auf uns zu, hat uns gefragt, wer wir sind. Wir wollten mit der gar nicht reden. Das haben wir ihr gesagt."
Oh, das war es schon? Da haben die vier Zeugen etwas ganz anderes berichtet. 
Erneut gehe ich auf die unabhängig voneinander getroffenen Aussagen der Grundschülerin, ihrer Freundin sowie zwei Schülerinnen aus meiner Klasse ein. Das Gespräch wird nun zäh, denn es wird jetzt um die Wahrheit gerungen bzw. um die eigenen Reputation gekämpft, die durch Phase 1 ja leider schon etwas gelitten hat. Als Lehrer gilt es beharrlich zu sein, dann folgt Phase 3.

3. Schuld umkehren
"Krass, früher in ähnlichen Fällen hat nie ein Lehrer auf so etwas reagiert, aber jetzt, jetzt auf einmal wird daraus ein großes Ding gemacht." Diese Reaktion ist ähnlich der, die man viel häufiger hört und die exakt in die gleiche Kerbe haut: "IMMER ICH!" Dem Lehrer wird hier tiefenpsychologisch der Schwarze Peter zugeschoben. Die Täterin macht sich hier zum Opfer! Es geht auf einmal gar nicht mehr um den Fall und die Fakten, das eigene Fehlverhalten und die sperrige Möglichkeit einer Entschuldigung, nein, auf einmal wird auf einer Metaebene die scheinbare Ungerechtigkeit des Zur-Rechenschaft-Ziehens in den Vordergrund geschoben. Ich habe schon oft erlebt, wie mir in dieser Phase als Lehrer die Kontrolle des Gesprächs entglitten ist. Auf einmal wird es ganz diffus und haarig. Betritt man diesen Pfad des Gesprächs, d.h. verlässt man seine vorherige Linie, um sich hier zu rechtfertigen, hat der Schüler in 9 von 10 Fällen gewonnen. Die Konsequenz ist dann oftmals, dass der Schüler es tatsächlich schafft - außer des Streitgesprächs mit dem Lehrer - relativ ungeschoren davon zu kommen. Schlimmer noch, er schafft es oftmals den Lehrer derart unter (moralischen) Druck gesetzt zu haben, dass dieser sich kurz vergisst, den Pfad der Tugend tatsächlich aus den Augen verliert und somit dem Schüler nachträglich und ganz unfreiwillig doch Recht gibt. Denn nun beginnt der einstige Täter tatsächlich zum Opfer zu werden (Ein auf ein sitzendes Kind schreiender Lehrer! Wer ist hier in den Augen Außenstehender Täter und wer Opfer?). 

4. Verantwortung abgeben
"Wär ich heute bloß zu Hause geblieben, dann wär das alles nicht passiert!" 
Die Schülerin beschreibt sich als Opfer des Schicksals (die Täterin macht sich also zum wiederholten Male zum Opfer). Sie stilisiert sich als Opfer höherer Mächte. Passiv ist sie eine vom Leben Getriebene. Kein Gedanke daran, dass sie auch zur Schule hätte gehen und wählen können zwischen Drohen und Nicht-Drohen. Nein, diese Wahl schien sie irgendwie nicht gehabt zu haben. 
Verantwortung, Schuld, Selbstbewusstsein - diese Drei gehen hier Hand in Hand einen unschicken Gang. Wer das Schicksal in moralischen Fragen höher wähnt als das eigene Selbst, dem mangelt es ganz offensichtlich an Selbst-Bewusstsein. Wem es derart an Selbstbewusstsein mangelt, der kann im Schatten dieses übermächtigen Schicksals keinerlei Schuld tragen. Woher soll so jemand ein Gefühl für Verantwortung bekommen?


Warum schreibe ich das auf? 
WEIL ich mich frage, wo in unserer Ausbildung wir die Art zielorientierter, schuladäquater  und gewaltfreier KOMMUNIKATION erlernen? Ich kann mich an keinen derartigen Baustein meines Studiums oder Referendariats erinnern. 
Ich selbst habe mich heute im Gespräch nicht ganz kontrollieren können. Auf einer Skala von 1-10 würde ich mir eine 6 geben. Den Schwarzen Peter habe ich mir zwar nicht unterschummelnd lassen (das ist gar nicht mal so schlecht), aber mein Ton war aggressiv. Zu aggressiv. 

Wenn Inklusion heißt, dass man keinen Schüler und keine Schülerin beschämt, wenn es bedeutet, dass man auch SchülerInnen aus schwierigsten Verhältnissen und mit schwierigsten Persönlichkeiten die Hand reichen sollte, gilt das dann nicht auch und gerade für die schwierigsten Situationen, bspw. einen Konflikt? SchülerInnen, die nicht gelernt haben Verantwortung zu übernehmen, SchülerInnen, die zu Hause selbst erniedrigt werden oder Beschämung und Gewalt erdulden müssen, woher sollen sie wissen, wie man mit Schuld und Verantwortung adäquat umgeht? Was müssten wir LehrerInnen lernen, damit wir von diesen SchülerInnen auch in schwierigsten Situationen nicht abweichen und was müssten wir lernen, um uns gleichzeitig vor ihren Fallen, Tricksereien und Nebelkerzen zu schützen? Und letztlich: Inwieweit müsste ein Fach Namens KOMMUNIKATION verbindlich und in welchem Umfang für die Lehrerausbildung festgeschrieben sein?

Anbei ein paar Literaturvorschläge:
(Weitere folgen)



Donnerstag, 6. April 2017

Gute Schule.

"Was ist eine gute Schule? Was ist guter Unterricht? Wie entsteht ein gutes Schulklima? Was zeichnet eine gute Schulleitung aus?
In dem 2009 erstmals veröffentlichten Karteikasten „Gute Schule“ geben Berliner Lehrkräfte und andere Fachleute aus dem Bildungsbereich Antworten auf diese und ähnliche Fragen.
Die Karteikarten enthalten knapp und überschaubar grundlegende Informationen und praktische Hinweise zu den Themenbereichen Lehr- und Lernprozesse, Schulkultur und Schulmanagement.
Mit der zweiten überarbeiteten Ausgabe liegt ein Ratgeber aus der Praxis für die Praxis vor, der neue Themenbereiche wie die Lernausgangslage, Rechenstörungen, Demokratieerziehung und Cyber-Mobbing umfasst."

So heißt es auf der Senatsseite. Und tatsächlich, der Karteikasten macht interessante Angebote sowohl hinsichtlich der eigenen Unterrichtsgestaltung als auch der Schulentwicklung. Lesenswert!

Download hier.


Quelle:    https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/gute-schule/, 06.04.2017, 15:24Uhr. 

Donnerstag, 23. März 2017

Rütli Campus I

Lernen von den Besten

Am 03.03.2017 war ich im Rütli-Campus hospitieren, Doppelstunde Deutsch, 10. Klasse. 
15 SchülerInnen, zwei LehrerInnen, eine Lesepatin. Ressourcentechnisch ein absoluter Traum! Und so war auch die Stunde! Ist das nicht logisch? Wenige SchülerInnen + viele PädagogInnen = guter Unterricht? Diese Formel ist so verlockend, auch bzw. gerade in ihrer Umkehrung (Viele SchülerInnen + wenig PädagogInnen = schlechter Unterricht) und könnte so ganz als Erklärung für Gesehenes herhalten. Doch wie Unrecht würde man dem LehrerInnenteam tun, wie wenig deren grandiose Leistung sehen! Die viel interessantere Antwort ist demnach: was diese KollegInnen aus dem ihnen zur Verfügung Stehenden gemacht haben (stark heterogene Schülerschaft, kleiner, technisch schlecht ausgestatteter Raum, nahendes Wochenende, viele SchülerInnen mit Migrationshintergrund und damit einhergehend wahrscheinlicher Sprachverständnisschwierigkeit), das war tief beeindruckend und meines Erachtens nah am Maximum dessen, was in diesem Schnittpunkt von Zeit und Raum möglich gewesen ist. Woran lag es?

1. Fachkompetenz sowie methodisch-didaktische Kompetenz
Die gezeigte Doppelstunde war meines Erachtens eine v.a. überaus intelligent gemachte Stunde. Sie war schlüssig/ in sich stimmig, zielfokussiert, mehrschichtig, pointiert, motivierend und transparent. Sie war nicht beliebig, nicht belanglos, nicht über- und nicht unterfordernd. Sie hatte Biss, ohne zu hohen Druck zu erzeugen und sie bot Entspannung, ohne den Biss zu verlieren. Es war Unterricht in seiner originärsten Bestimmung. Was wurde konkret geboten?
  • Schülernahes und aktuelles Thema. Dieser Punkt klingt so banal. Ist das nicht selbstverständlich? Doch wie oft sieht die Realität in Schule ganz anders aus? Hier jedoch wurden zum Anfang der Stunde zwei FakeNews (Stundenthema mit hoher Aktualität) an die Wand projiziert: „Angela Merkel - Haschanbau im Kanzleramt“ im Layout einer Facebookseite (beides adressatengerecht) sowie „Flüchtlingen rauben jedem dritten Deutschen die Kinder“ im Stiele einer BILDzeitungsseite (beides ebenfalls adressatengerecht). Das war der Stundeneinstieg und die SchülerInnen nahmen ihn dankbar an, waren gleich bei der Sache. Diese Motivation hielt sich bis zum Stundenende und wurde durch folgenden Punkt noch verstärkt. 
  • Hohe Relevanz. Wer sich beim Thema noch nicht abgeholt sah, der bekam vom LehrerInnenteam ein weiteres Angebot unterbreitet. Denn das, was in der Stunde geübt werden sollte, die Kompetenz, der man sich zuwenden wollte, war in hohem Maße MSA-relevant. Diese Relevanz wurde nachhaltig kommuniziert, d.h. frühzeitig festgestellt und während der Stunde wiederholt betont.
  • Fächerübergreifender Ansatz. Was den SchülerInnen trotz gebotener Transparenz glaube ich nicht bewusst wurde, ist der Umstand, dass die Doppelstunde Deutsch sehr fächerübergreifend orientiert aufgebaut war. Folgende Themen wurden in der Gruppenarbeits-/Hauptphase bearbeitet: „Wo unser Rohöl herkommt?“ (Erdkunde), „Haltungsformen von Hühnern“ (Ethik, Biologie), „Buch und e-Book“ (Deutsch, Ethik, Wirtschaft), „Wasserverbrauch und virtuelles Wasser?“ (Erdkunde, Ethik), „Die Deutschen und ihr Eis“ (Deutsch), „Essbare Stadt“ (Erdkunde, Biologie, Ethik, Wirtschaft). Deutlich hieran wird, dass den SchülerInnen während der Stunde mehrere Möglichkeiten geboten wurden, sich in ihren Interessen wiederzufinden. Ihnen wurde regelrecht ein Blumenstrauß der Möglichkeiten zu Füßen gelegt. Wussten die SchülerInnen dies zu schätzen? Ja! Mit reger Mitarbeit zahlten sie den geleisteten Input zurück.
  • Schnelle Aktivierung, hohe Impulsrate. 12 Minuten nach Stundenbeginn war jeder einzelne Schüler und jede einzelne Schülerin über ihren ersten schriftlichen Arbeitsauftrag gebeugt, der Kopf rauchte. Ein Zurücklehnen, ein andere für mich arbeiten und mitdenken lassen, epische Lehrervorträge und/oder Ping-Pong-Dialoge zwischen wenigen, das alles gab es hier nicht. Stattdessen wurden meist alle SchülerInnen schriftlich oder mündlich aufgefordert, angesprochen, durch Impulse unter einer gewissen produktiven Spannung gehalten. Es galt dabei zu bleiben, mit- und weiterzudenken, nachzuhaken. Und zwar 90 Minuten lang. D.h. nicht, dass es nicht auch Entspannungsmomente gab, die gab es. Sie wurden allein schon durch die wechselnden Sozialformen angebahnt. Aber, selbst diese Entspannungmomente waren zielgeleitet. Dahinter verbirgt sich meines Erachtens eine Grundhaltung der LehrerInnen, nämlich ein sehr hoher eigener Arbeitsethos sowie eine einhergehend hohe Anspruchshaltung. Ich persönlich finde beides extrem positiv. LehrerInnen haben nicht zuletzt auch hier Vorbildcharakter, oder nicht? Sagen wir es so, wenn sie zugleich die Möglichkeit auf individuellen Erfolg gewährleisten, dann ja.
  • Möglichkeit auf persönlichen Erfolg. Je höher die allgemein gültigen Maßstäbe, desto höher die Wahrscheinlichkeit des persönlichen Scheiterns. Was aber, wenn ich den für alle geltenden Maßstab individuell maximiere? Oder anders ausgedrückt, wenn ich den Maßstab individuell maximiere und ihn damit überhaupt erst für alle sinnvoll geltend werden lasse? Dann kommt exakt das heraus, was bei Frau S. an der Paula-Fürst-Schule in goldenen Lettern eingerahmt im Klassenraum hängt: „Jeder gibt sein(!) Bestes!“ Diese Prämisse als Maßstab gedacht ergibt eine für Unterrichtsplanung hoch interessante Frage: Wenn jemand in meinem Unterricht sein Bestes gibt, gewährleiste ich ihm dann auch den maximalen Erfolg? Wie oft wird diese Frage in Schule wohl mit NEIN beantwortet? Und wie oft ist dieses Nein in Schule strukturell verankert? Dem Schüler Misserfolg bereiten als Strukturmerkmale herkömmlicher Schule? Schule als Misserfolgserlebnisanstalt? Allein beim Schreiben dieser Zeilen lässt es einem das Herz zusammenziehen. Wir müssen uns neu ausrichten. Dann kann Unterricht den maximalsten aller Ansprüche stellen und dennoch bzw. gerade deshalb größtmöglichen Erfolg gewährleisten. Womit wir zurück beim Rütli-Campus wären und dieser einen speziellen Doppelstunde. Höchstmöglicher Anspruch seitens des LehrerInnenteams an sich und alle(!) SchülerInnen, gekoppelt mit der Aussicht auf Erfolg. Hier ging beides - gestützt durch differenziertes Material, individuelle Hilfestellungen, persönliche Wertschätzung, individuelles Lob, maßgeschneidertes Feedback, bewusst heterogen geplante Gruppenzusammenstellung sowie offenen Fragestellungen - Hand in Hand.
  • Spiel mit der Sprache. Sprache kann Nähe und Distanz schaffen, ein Wir oder ein Ihr betonen, Ansprüche andeuten, aber auch Relativitäten betonen, sie kann Lachen und Grübeln gleichermaßen forcieren. Dieses Wechselspiel des Sprach-Möglichen wurde von den LehrerInnen des Rütli-Campus´ meines Erachtens absolut beherrscht. Sie boten durch ihre unterschiedlich gewählte Ansprachen (humorvoll, streng, wertschätzend, privat, formell, metaphorisch, klar, …) den SchülerInnen die Möglichkeit, sie als etwas zu sehen, das über die klassische Lehrerrolle weit hinausging: als Menschen, als Individuen, als Wohlgesonnene, als kritische Partner, als Unterstützer, als Wegbereiter, als Bedürftige, als im selben Boot Sitzende. Nähe und Distanz bildeten hier ein wohltemperiertes und gewinnbringendes Gleichgewicht. Für dieses LehrerInnenteam hätte ich auch mein Bestes gegeben!
  • Kompetenzorientierte Stundendramaturgie. Am Stundenende wurden die SchülerInnen aufgefordert, erneut die Folien des Stundenanfangs, allerdings mit dem in der Stunde Erlernten, zu überprüfen. Hiernach sollten sie die Metaebene betreten, um Erkenntnissätze betreffs des Stundeninhalts zu formulieren (5 Tipps zum Verstehen von Grafiken). Der Stundeneinstieg war demnach kein Zufall. Er erschöpfte sich nicht in seiner Wirkung als Initialzündung. Er wirkte vielmehr (wie der Rest der Stunde auch) auf ein einziges Ziel hin, nämlich das während der Stunde exemplarisch Erlernte am Stundenende (MSA-)relevant zu verallgemeinern. Am Ende der Stunde schloß sich also der Kreis. Hier wurde der wahre Mehrwert der Stunde generiert. Die Dramaturgie: Exemplarisch im Detail - Exemplarisch in die Breite - Verallgemeinerung des Exemplarischen. Dieses Vorgehen ist die Grundlage von Kompetenzerwerb.
2. Team-Teaching
Einen weiteren Grundstein des Erfolgs sehe ich in dem recht gelungenen Teamteaching. 
  • Vervielfachung der Ressourcen. Fall A) 15 SchülerInnen, ein(e) Hauptpädagog(in), zwei PädagogInnen mit nur disziplinierender Aufgabe. Wenn alle SchülerInnen gleichzeitig eine Frage hätten, könnte das Team ca. sieben Prozent aller SchülerInnen gleichzeitig beraten und unterstützen. Fall B) 15 SchülerInnen, drei PädagogInnen, alle mit beratender und unterstützender Funktion. Wenn alle SchülerInnen gleichzeitig eine Frage hätten, könnte das Team exakt 20 Prozent aller SchülerInnen gleichzeitig beraten und unterstützen. Fall C) 15 SchülerInnen, drei PädagogInnen, alle mit beratender und unterstützender Funktion. Das Team entscheidet sich für leistungsdifferenzierte Gruppen, die SchülerInnen sind angehalten und gewohnt sich gegenseitig zu helfen, d.h. kooperativ zu arbeiten. Fragen, die jetzt an die PädagogInnen gestellt werden, sind demnach nur nur noch Fragen, die die Gruppe nicht in der Lage ist alleine zu lösen. Es sind Gruppenfragen. Wenn alle Gruppen nun gleichzeitig eine Frage hätten, könnte das Team exakt 60 Prozent aller Gruppen gleichzeitig beraten und unterstützen. 60% aller SchülerInnen wären angesprochen. Hinzu kommt, da die SchülerInnen sich selbst unterstützen, wird das Team fiel seltener von der Lerngruppe beansprucht, d.h. die einzelnen PädagogInnen könnten gezielter diejenigen SchülerInnen beobachten, aufmuntern unterstützen, versorgen und ggf. unterstützen, die das am meisten benötigen. Was für ein Zauber! Von 7 auf 60%! Man muss kein Prophet sein um festzustellen, das Unterrichtsstörungen abnehmen und die allgemeine Zufriedenheit aller zunimmt. 
  • Vorbildcharakter und Blaupause. Wenn sich KollegInnen - wie die drei PädagogInnen vom Rütli-Campus - vor einer Lerngruppe gegenseitig wertschätzen, wenn sie sich zu Wort kommen lassen und ihre unterschiedlichen Beiträge als Bereicherung begreifen, wenn sie sich das Feld überlassen, um sich gegenseitig in ihrer Autorität zu stützen, wenn sie gelöst miteinander lachen und gleichzeitig die Gruppe gemeinsam auf ein Ziel einschwören, wenn sie das tun, welche Verhaltensmuster werden dann ihre SchülerInnen zeigen? Wer so ein Vorbild abgibt, darf der von seinen SchülerInnen womöglich mehr erwarten und wird weniger enttäuscht werden? Ich glaube, ja. 
3. Beziehungsarbeit
Die Beziehungsarbeit des LehrerInnenteams geht über das übliche Maß hinaus. Vielleicht auch das ein Baustein des Erfolgs. Herr L. erzählte uns, dass er die Klasse bereits vier Jahre betreut. Anfangs gab es große Schwierigkeiten. Er und sein Team reagierten und machten neben vielen Klassenkonferenzen noch mehr Hausbesuche. „Ich kenne eigentlich alle Eltern, weiß wie die Schüler zu Hause leben.“ Manchmal wurde auch zusammen ein Tee getrunken, vielleicht dadurch Barrieren und Hürden abgebaut, die andernfalls ein erfolgreiches Miteinander deutlich erschwert hätten. Das ganzheitlichere Verständnis seine SchülerInnen betreffend sowie ein tiefergehendes Vertrauensverhältnis aller Beteiligten erleichterte Hr. L. und seinem Team möglicherweise auch das spätere Anbahnen bzw. gemeinsame Beraten geeigneter Lauf- und Schulbahnentscheidungen (Praxislernen ja/nein?, Statusaberkennung ja/nein, Überprüfungsverfahren ja/nein?, Teilnahme an Schulfahrten ja/nein, usw.). Ebenfalls ist davon auszugehen, dass die SchülerInnen diejenigen LehrerInnen anders betrachten, die von ihren Eltern in deren zu Hause im besten Falle wohlwollend als Gäste aufgenommen wurden, die den Mut aufbringen, ihre eigene Comfortzone zu verlassen, um sich auf eine Kommunikation mit womöglich umgekehrten Vorzeichen einzulassen, die sich letztlich für mehr interessieren als um die bloße Schulleistung des Einzelnen

4. Lehrerpersönlichkeiten
Ich habe bereits über den hohen und spürbaren Arbeitsethos sowie die hohe Anspruchshaltung des LehrerInnenteams gesprochen. Was ebenso spürbar war und meines Erachtens Erwähnung verdient ist die Eigenschaft, sein eigenes Handeln kritisch zu reflektieren, zu hinterfragen und gff. als zukünftige Handlungsoption zu verwerfen. Der Lehrer als Lernender, als sich ständig im Prozess Begreifender, als Fehlbarer, als Innovator, als Reiter ohne hohes Ross. Der Lehrer, der seinen Fehlern Gewinn abringt, der Scheitern als Chance begreift. Hr. L. scheint mir ein derartiger Lehrer zu sein. Er hatte sein Referendariat auf einem Gymnasium in Westdeutschland gemacht. Dann kam er nach Berlin. Rütli war für ihn auch ein Schock. Seine Worte betreffs seiner Anfangszeit am Rütli-Campus: „Ich musste meine Lehrerrolle völlig neu denken. Das habe ich getan.“ 
Die SchülerInnen die da sind, sind die besten SchülerInnen die wir haben. Sie unterstehen unserem verantwortungsvollen Handeln. Wer so denkt, der beschwert sich nicht darüber, was SchülerInnen (angeblich) alles nicht können, sondern schafft die Voraussetzungen dafür, dass eben diese SchülerInnen Erfolg haben werden. Dieses Credo, diese Haltung, macht meines Erachtens einen guten Lehrer aus.

5. Drop-Down-Prozesse und buttom-up-Effekt
Wir hatten bei unserem Besuch am Rütli-Campus 25 Minuten Zeit, um mit einer Vertreterin der Schulleitung ins Gespräch zu kommen. Eine interessante Persönlichkeit mit einem Faible für experimentelles Lernen, wie sie selbst über sich sagt. Erstaunlich fand ich, welch klare Vorstellung sie einem von ihrer Arbeitsweise zu vermitteln verstand, bedenkt man die äußerst begrenzte Gesprächszeit. Welche wesentlichen Punkte betreffs der Arbeitsweise wurden deutlich?
  • Auch die Rütli-Schule ist eine Schule, die sich durch eine Krise gezwungen sah, neu aufzustellen. Ähnlich der Heinrich-von-Stephan-Schule, ähnlich der Paula-Fürst oder der Max-Brauer-Schule aus Hamburg. Durch den Beitritt zur Stiftungsinitiative „Ein Quadratkilometer Bildung“ generierte die Schule für sich frei verfügbare Gelder über einen Zeitraum von zehn Jahren. Was wurde mit dem Geld gemacht? Es wurde v.a. dafür verwendet, um einen kaskadenartigen Drop-down-Prozess der Schulentwicklung ins Leben zu rufen. Zu erst ging die Schulleitung in Wochenendworkshops auf ein Landgut, um von eigenen Stärken und Schwächen ausgehend wünschenswerte Ziele für die Schule zu formulieren, danach begab sich die erweiterte Schulleitung in diesen Prozess, dann die Fachbereiche, dann thematisch orientierte Arbeitsgruppen. Sukzessive von oben nach unten wurde ein Prozess der Selbstverortung, Selbstvergewisserung sowie der Fokussierung in Gang gebracht. Es entstand eine innovative Dynamik, eine Aufbruchsstimmung.
  • Es wird auf lohnende Vernetzung gesetzt, also nicht um jeden Preis. Nur, wenn sich KollegInnen bereit erklären sich für eine Sache einzusetzen, werden Kooperationen verfolgt und versucht zum Erfolg zu bringen.
  • Die Einstellung neuer KollegInnen ist keine einsame Entscheidung der Schulleitung, sondern geschieht im Team. Identifiziert sich der/die neue KollegIn mit der Schulphilosophie, der Art und Weise der Fachbereichsarbeit, will er/sie sich auf gegebenes SchülerInnen-Klientel verantwortungsvoll einlassen, ist er/sie ein Teamplayer? Bevor ein neuer Kollege/in eingestellt wird, muss er/sie hospitieren, um den Alltag zu verstehen und die Herausforderung zu wissen. Durch die gemeinsame Einstellung neuer KollegInnen wird ein Buttom-up-Prozess gesichert, der sich auf den Drop-Down-Prozess bezieht. How smart!
  • Die Vertreterin der Schulleitung lebt eine Angebotskultur. Sie äußert Wünsche und eröffnet begrenzte Zeitfenster. „Ich wünschte mir, dass sie sich ein Jahr lang jede Woche in einer zusätzlichen Stunde in ihrem Jahrgang zusammensetzen, um die Zusammenarbeit zu stärken, gemeinsam planen zu können und bei Problemen nach Lösungen ringen zu können. Geben Sie uns dieses eine Jahr? Gehen Sie mit? Wenn wir/Sie nach einem Jahr feststellen, dass die Maßnahme keinen Gewinn darstellt, dann beenden wir sie.“ Das Kollegium folgte diesem Angebot. Heute hat der Rütli-Campus eine fest verankerte wöchentliche Jahrgangsarbeit in Jahrgangshäusern. Ich persönlich halte diese Teamführung für psychologisch sehr klug, ja, charmant.
Diese Arbeitsweise der Schulleitung sind meines Erachtens auch Bedingung dessen, was ich oben so positiv beschreibe. Womit ich am Ende meines Berichtes angelangt wär. 
Hm, er klingt, als hätte ich paradiesische Zustände vorgefunden. Kritik? Könnte man – wie immer – üben. Ich möchte mich aber auf einen Punkt beschränken, der mich selbst sehr umtreibt. Vielleicht ist er weniger Kritik, denn mehr eine Frage an meine Mentorin.
Hr. L. äußerte, dass die kleine Lerngruppe (15 SchülerInnen) auch daher rühre, dass man einige SchülerInnen per Konsens ins Praxislernen bekommen hat. Diese SchülerInnen sind verwaltungstechnisch noch Campus-Rütli-SchülerInnen, faktisch jedoch anderen Örtlichkeiten zugeordnet. Des Weiteren wurde bei einem Schüler im Gespräch mit allen Beteiligten der Entschluss gefällt, ihn in eine Förderschule zu übergeben, da er dort besser aufgehoben sei. Meine Frage, ab wann bzw. unter welchen Umständen ist Exklusion opportun?



Samstag, 28. Januar 2017

Schülerbeobachtung

Jeder Lehrer und jede Lehrerin kennt sie - SchülerInnen, die einen bis auf´s Blut reizen. Immer und immer wieder. Völlig halt- und ratlos drohen einem dann die eigenen Gesichtszüge zu entgleiten sowie die gebotene Mäßigung abhanden zu kommen. Was tun?
Eine vielversprechende Handlung ist das intensive Beobachten. Was diese Handlung bewirken kann, habe ich in meiner entsprechenden Hausarbeit "Beobachtung eines Augenmerkkindes" reflektiert.

Vorweg zwei gegensätzliche Auszüge aus dem Fazit der Hausarbeit:

  • "Allein wenn ich mir vor Augen führe, wie mein Schüler durch das gezielte Beobachten an Kontur, Schärfe, Stimmig-, Griffig- und Persönlichkeit gewonnen hat! Wie sich mein Verständnis seiner Handlungen von un-sinnig hin zu verstehbar gewandelt hat! Und wenn ich bedenke, wie die Ausgangslage war! So negativ, so ohne Handlungsideen. Ohnmächtig und gereizt. Und jetzt? Das, was ich da in den Händen halte – diese schiere Quantität der Handlungsmöglichkeiten – ist so vielversprechend, so ermutigend, so professionell und befähigend, so lohnend, so schüler- und erfolgsorientiert. Das macht mich insgesamt gesehen sehr zufrieden."

  • "Griffig. Lässt sich Individualität überhaupt greifen? Ist wahre Individualität nicht gerade das, was sich dem Zugriff widersetzt? Im Handeln, gar im Denken? Sichert ein Unterricht nicht gerade dann Individualisierung, wenn er auch Räume des Verborgenen zu-sichert? Wenn er dem Individuum Zufluchtsräume gewährt? Beobachten hingegen heißt v.a. Sichtbarmachen und damit Rationalität und Rationalisierung den Zugang sichern. Sichtbarmachen ist derart die wichtigste Voraussetzung der Normierung. So funktioniert letztlich Scham."

Wer mehr erfahren möchte, der lese HIER.
(Aus Gründen der Anonymisierung ist die Hausarbeit in Teilen geschwärzt. Der Lesbarkeit sowie dem Verständnis tut dies jedoch kein Abbruch.)