Dienstag, 30. Mai 2017

Trainiert uns in Kommunikation!

Mit einer meiner Lerngruppen bin ich zu Gast in einer anderen Schule, wo wir deren Sporthalle nutzen dürfen. Auf dem Weg zu den Mädchenumkleiden haben zwei "meiner" Schülerinnen (13 Jahre) eine vorbeilaufende Grundschülerin bedroht. Sie dürfe nicht in das obere Stockwerk gehen, wo wir Sport haben, da dort ein ein Verrückter auf sie warte, der ihr Gewalt antun würde. Danach wurden sie handgreiflich, rüttelten das Mädchen an ihren Schultern gepackt kräftig durch und drohten ihr erneut. 
Der "Fall" landete bei mir, als eine besorgte Lehrerin der Grundschule mitten im Unterricht auf mich zutrat und um Klärung des Vorfalls bat. Ich brach den Unterricht ab. Dann Zeugenbefragung und so weiter. Nach Klärung der Sachlage führte ich den Unterricht fort, an dessen Ende ich die beiden Mädchen zur Rede stellte. Was sich in diesem Gespräch zutrug war unglaublich! Es war der Prototyp eines Konflikt-Gesprächs zwischen Lehrer (mir) und einer der beiden Schülerinnen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommt. Das Gespräch strukturierte sich in vier Phasen:

1. Leugnen (Lügen, Abstreiten)
"Ich?" - ungläubiges Gesicht, nahe am Entsetzen. "Ich, ich habe nichts gemacht!" Diese Phase allein finde ich jedes Mal auf´s Neue hochgradig beschämend, befremdlich und unglaublich rätselhaft. Man kann es förmlich fühlen, wie sehr hier von der Wahrheit abgerückt wird und schlimmer noch, man fühlt auch, dass es der Gegenübersitzenden ganz ähnlich ergehen muss. Diese Diskrepanz zwischen Mimik, Gesagtem einerseits und der Tat andererseits, sie schreit zum Himmel! Es ist ein schamloses Ins-Gesicht-Lügen und irgendwie auch eine beeindruckende schauspielerische Leistung. Sie gefährdet die in Schule von Schülern und Lehrern gemeinsam umhegte und so überaus kostbare Pflanze namens Vertrauen. 

2. Bagatellisieren
Ein Pokerface ist immer ein Face auf Zeit. Früher oder später bekommt es im Angesicht der kalten Fakten kalte Füße. Dann folgt Phase 2. 
"Ja, okay, ich war dabei. Die Grundschülerin kam auf uns zu, hat uns gefragt, wer wir sind. Wir wollten mit der gar nicht reden. Das haben wir ihr gesagt."
Oh, das war es schon? Da haben die vier Zeugen etwas ganz anderes berichtet. 
Erneut gehe ich auf die unabhängig voneinander getroffenen Aussagen der Grundschülerin, ihrer Freundin sowie zwei Schülerinnen aus meiner Klasse ein. Das Gespräch wird nun zäh, denn es wird jetzt um die Wahrheit gerungen bzw. um die eigenen Reputation gekämpft, die durch Phase 1 ja leider schon etwas gelitten hat. Als Lehrer gilt es beharrlich zu sein, dann folgt Phase 3.

3. Schuld umkehren
"Krass, früher in ähnlichen Fällen hat nie ein Lehrer auf so etwas reagiert, aber jetzt, jetzt auf einmal wird daraus ein großes Ding gemacht." Diese Reaktion ist ähnlich der, die man viel häufiger hört und die exakt in die gleiche Kerbe haut: "IMMER ICH!" Dem Lehrer wird hier tiefenpsychologisch der Schwarze Peter zugeschoben. Die Täterin macht sich hier zum Opfer! Es geht auf einmal gar nicht mehr um den Fall und die Fakten, das eigene Fehlverhalten und die sperrige Möglichkeit einer Entschuldigung, nein, auf einmal wird auf einer Metaebene die scheinbare Ungerechtigkeit des Zur-Rechenschaft-Ziehens in den Vordergrund geschoben. Ich habe schon oft erlebt, wie mir in dieser Phase als Lehrer die Kontrolle des Gesprächs entglitten ist. Auf einmal wird es ganz diffus und haarig. Betritt man diesen Pfad des Gesprächs, d.h. verlässt man seine vorherige Linie, um sich hier zu rechtfertigen, hat der Schüler in 9 von 10 Fällen gewonnen. Die Konsequenz ist dann oftmals, dass der Schüler es tatsächlich schafft - außer des Streitgesprächs mit dem Lehrer - relativ ungeschoren davon zu kommen. Schlimmer noch, er schafft es oftmals den Lehrer derart unter (moralischen) Druck gesetzt zu haben, dass dieser sich kurz vergisst, den Pfad der Tugend tatsächlich aus den Augen verliert und somit dem Schüler nachträglich und ganz unfreiwillig doch Recht gibt. Denn nun beginnt der einstige Täter tatsächlich zum Opfer zu werden (Ein auf ein sitzendes Kind schreiender Lehrer! Wer ist hier in den Augen Außenstehender Täter und wer Opfer?). 

4. Verantwortung abgeben
"Wär ich heute bloß zu Hause geblieben, dann wär das alles nicht passiert!" 
Die Schülerin beschreibt sich als Opfer des Schicksals (die Täterin macht sich also zum wiederholten Male zum Opfer). Sie stilisiert sich als Opfer höherer Mächte. Passiv ist sie eine vom Leben Getriebene. Kein Gedanke daran, dass sie auch zur Schule hätte gehen und wählen können zwischen Drohen und Nicht-Drohen. Nein, diese Wahl schien sie irgendwie nicht gehabt zu haben. 
Verantwortung, Schuld, Selbstbewusstsein - diese Drei gehen hier Hand in Hand einen unschicken Gang. Wer das Schicksal in moralischen Fragen höher wähnt als das eigene Selbst, dem mangelt es ganz offensichtlich an Selbst-Bewusstsein. Wem es derart an Selbstbewusstsein mangelt, der kann im Schatten dieses übermächtigen Schicksals keinerlei Schuld tragen. Woher soll so jemand ein Gefühl für Verantwortung bekommen?


Warum schreibe ich das auf? 
WEIL ich mich frage, wo in unserer Ausbildung wir die Art zielorientierter, schuladäquater  und gewaltfreier KOMMUNIKATION erlernen? Ich kann mich an keinen derartigen Baustein meines Studiums oder Referendariats erinnern. 
Ich selbst habe mich heute im Gespräch nicht ganz kontrollieren können. Auf einer Skala von 1-10 würde ich mir eine 6 geben. Den Schwarzen Peter habe ich mir zwar nicht unterschummelnd lassen (das ist gar nicht mal so schlecht), aber mein Ton war aggressiv. Zu aggressiv. 

Wenn Inklusion heißt, dass man keinen Schüler und keine Schülerin beschämt, wenn es bedeutet, dass man auch SchülerInnen aus schwierigsten Verhältnissen und mit schwierigsten Persönlichkeiten die Hand reichen sollte, gilt das dann nicht auch und gerade für die schwierigsten Situationen, bspw. einen Konflikt? SchülerInnen, die nicht gelernt haben Verantwortung zu übernehmen, SchülerInnen, die zu Hause selbst erniedrigt werden oder Beschämung und Gewalt erdulden müssen, woher sollen sie wissen, wie man mit Schuld und Verantwortung adäquat umgeht? Was müssten wir LehrerInnen lernen, damit wir von diesen SchülerInnen auch in schwierigsten Situationen nicht abweichen und was müssten wir lernen, um uns gleichzeitig vor ihren Fallen, Tricksereien und Nebelkerzen zu schützen? Und letztlich: Inwieweit müsste ein Fach Namens KOMMUNIKATION verbindlich und in welchem Umfang für die Lehrerausbildung festgeschrieben sein?

Anbei ein paar Literaturvorschläge:
(Weitere folgen)



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