Samstag, 14. Oktober 2017

Noten? Bitte frühestens ab 9. Klasse (Teil III).

Ein Klassiker aus dem Lehrerzimmer:

Lehrer 1: "Erst Projekttage, dann Klassenfahrt, nun schon wieder Ferien! Man kommt gar nicht richtig ins Lernen!"
Lehrer 2: "Dabei sind bald die Zwischennoten fällig! Ich habe kaum Noten von meinen Schülern. Wir haben auch noch gar keinen Test schreiben können. Wie auch?! Woher soll ich die Noten nehmen? 
Lehrer 1: "Ja, geht mir auch so. Müssen wir zusehen, dass wir bald einen Test schreiben, vielleicht auch noch Hefter einsammeln und diese zensieren."
Lehrer 2: "Ja, werd ich auch machen. Dann haben wir wenigstens zwei schriftliche Noten, der Rest ist dann mündliche Mitarbeit."

Ein Gespräch dieser Art habe ich schon mehrfach gehört, manchmal sogar selbst geführt. Es zeigt, was das Notensystem mit uns macht.
Nicht nach pädagogischen Prämissen planen wir unseren Unterricht, sondern nach der Notwendigkeit Noten geben zu müssen. Unsere Unterrichtsreihen strukturieren sich dann weniger nach inhaltlichen, motivationalen, bedürfnisorientierten, zeitlich sinnvollen, dramaturgischen, kreativitätsfördernden Kriterien, sondern v.a. nach einem Kriterium: Notenschluss, d.h. nach der Zeit. Ein Datum gibt uns den Rhythmus vor. 20.11.2017 - Eintrag der Zwischennoten. 23.11. - Elternsprechtag (Noten als Grundlage der Gespräche).  04.01.2018 - Eintrag der Noten in die Schul-PCs. 11.01.2018 - Zeugniskonferenzen. 
Da wir gesetzlich bis hin zum Halbjahreszeugnis der 9. Klasse keine Noten geben müssen, sprich, als Schule andere Bewertungs- und Feedbacksysteme entwickeln können, bedeutet diese Ausrichtung an einem Datum letztlich v.a. eins: Es ist eine Bankrotterklärung und ein Totalversagen von uns LehrerInnen als PädagogInnen

Den Druck des Datums, den Druck des von den Noten generierten Rhythmus´ geben wir knallhart an die uns anvertrauten SchülerInnen weiter. Der Stoff wird nun im Akkord, statt nach den Bedürfnissen, den Fähigkeiten und den Kompetenzen unserer SchülerInnen durchgenommen. Ein Verweilen, eine Ex-Kursion, ein Entschleunigen, ein Abweichen vom geplanten Weg, ein dem Schüler-Folgen, ein vertiefendes Beleuchten, ein buntes Entblättern, ein müßiges Suchen - all das ist auf dem Weg zum nächsten Test nicht vorgesehen. Es stört. Wie auch das Langsame, das Fragende, das Verträumte, das Lachende eher störend ist. FokussiertSein und Tempo sind die Tugenden. Lust am Lernen - und am Lehren(!) - hat keine Priorität. Die Ausrichtung an der Sach-/ Leistungsnorm dominiert, für eine individuelle Ausrichtung fehlt die Zeit (siehe hierzu mein Blogeintrag "Noten bitte frühestens ab 9. Klasse (Teil I)").

In diesem System des (Noten)Drucks gibt es SchülerInnen, die das Tempo nicht halten können. Ihre Zahl ist hoch. 

Ein Achtklässler aus meiner Schule zeigt in diesem Kontext unterdurchschnittliche Leistungen. Sein Arbeitstempo hält nicht Schritt, er wirkt oft müde, unkonzentriert, mit Mühe nur erschließen sich ihm einfachste Zusammenhänge, oftmals kann er dem Unterrichtsgeschehen nicht folgen, Arbeitsaufträge werden von ihm nur stark verzögert in Angriff genommen. Schulische Erfolge - Fehlanzeige. Er wirkt oftmals "unaufgeräumt", vielleicht muss man sogar sagen - traurig.
Wir diskutieren diesen Schüler im Team. Schließlich wird der Ruf laut, ihn auf eine LernBEHINDERUNG hin testen zu lassen. Man muss sich das vor Augen führen, sich diesen Wahnsinn bis ins letzte Detail ausmalen. Die Statusüberprüfung als pädagogische Lösung! Für mich persönlich das zweite Totalversagen von uns PädagogInnen. Warum?

Fragen wir einmal - was würde sich durch eine Statuszuerkennung für den entsprechenden Schüler verändern? Folgendes ist denkbar. 
  • 1. Der Schüler selbst erlebt den Status als Stigmatisierung. 2. Er entwickelt ein negatives Selbstbildnis. 3. Seine Lernmotivation sinkt, seine Lernleistung ebenso. 4. Erst nehmen Unterrichtsstörungen durch ihn zu, schließlich wendet er sich von der Schule und sie von ihm ab. 
  • Der Status ermöglicht es den LehrerInnen den entsprechenden Schüler milder zu bewerten sowie ihm leichtere Aufgaben und weniger umfangreiche Materialien zu geben. Der Lehrer wird derart psychisch entlastet. Er darf nun ganz legitim mit zweierlei Maß messen. Zweierlei Maß. Mal zum Vergleich: Individualisierter Unterricht ohne Noten mäße mit mit 24-/ 28-/ 32-leier Maß. Nun gut, hier also zweierlei Maß. Was hat der Schüler davon? Er nimmt folgendes wahr: es gibt normale(!) Noten und Sternchen-Noten. Letztere bekommt er. Er mag sie nicht so recht vor anderen zeigen. Stolz auf seine Leistung und die Note will sich auch nicht einstellen. Der Grund: Die Noten sind Noten des Makels, optisch stigmatisiert durch einen Stern. Und das Material? Hätten die LehrerInnen nicht auch ohne Statusüberprüfung diese Möglichkeit gehabt? Sie hätten. Und hätten sie diese Möglichkeit für all ihre SchülerInnen genutzt, so wäre differenziertes Material für diesen Schüler auch überhaupt kein Problem gewesen. Doch jetzt, jetzt ist dieses Extraarbeitsblatt ein weiteres Zeichen seines Makels. Es ex-trahiert ihn förmlich von den anderen. Mit welcher Freude soll dieser Schüler noch lernen können? Welchen Stolz ist er unter diesen Umständen fähig zu entwickeln? Und welches Bild von sich selbst wird er erlangen?
  •  Vor der Statusüberprüfung ist es notwenig, die Eltern ins Boot zu holen. "Wir würden gerne ihren Sohn/ ihre Tochter überprüfen, also testen lassen." Subtext: "Irgendetwas stimmt mit ihrem Sohn/ ihrer Tochter nicht. Er/sie ist nicht ganz normal. Er/sie hat ein zu Viel (viel zu langsam, viel zu unkonzentriert, ...) und ein zu Wenig (zu geringe Kenntnisse, zu geringes logisches Denkvermögen, gering ausgeprägtes Sprachverständnis, ...), ist Drüber (zu laut, zu hibbelig, ...) und Drunter (unterdurchschnittlich, unter der Norm). Wie geht es diesen Eltern? Was verändert es in ihrer womöglich bisher unerschütterten Beziehung zu ihrem Kind? Und was macht dies mit dem Kind?  
Halten wir fest. Unterricht der sich nach Tests und Noten richtet, richtet sich vor allem nach der Sachnorm. Er erhöht den (Leistungs)druck auf das gesamte System. SchülerInnen die diesem Druck nicht gewachsen sind, werden als inadäquat und störend wahrgenommen. Anstatt sich zu fragen, was diese Kinder im einzelnen benötigen, um Lernerfolg zu haben, werden die Schwächsten von ihnen auf Status Lernen hin getestet. Bekommt eins dieser Kinder einen Status zuerkannt, so birgt dies für das Kind sowie sein Umfeld erhebliche Risiken. Vor allem das Selbstbild des Kindes ist in Gefahr ins Negative abzudriften. Die Konsequenzen für seine Entwicklung eher negativ. 

Interessanter Weise ergibt sich folgender paradoxer Teufelskreis: Der Druck durch Noten führt dazu, dass Schule ihre schwächsten SchülerInnen - um ihnen zu helfen - via Statusüberprüfung regelrecht PATHOLOGISIERT. Diese Pathologisierung birgt das Risiko, eben jene SchülerInnen seelisch erkranken zu lassen (siehe hierzu auch mein Blogeintrag "Noten bitte frühestens ab 9. Klasse (Teil II)").



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