Donnerstag, 5. Oktober 2017

Der Krüppel.

Was haben Aristoteles, Luther und Darwin gemeinsam? 
Antwort: Sie alle sehen im behinderten Menschen ein Wesen, dass es zu bekämpfen gilt (auszusetzen/ zu ersäufen, zu verbrennen/ wegzusperren).  

Da wundert es kaum, dass bis in die heutige Zeit behinderte Menschen mit Argwohn betrachtet und als Störung empfunden werden. Zu tief sitzen die tradierten und über die Jahrhunderte gepflegten Vorbehalte. Behinderte wurden und werden kulturübergreifend auf mannigfaltigste Art und Weise instrumentalisiert. Indem man sie als Gefahr oder Kuriosum brandmarkt(e), dien(t)en sie der Gesellschaften zur:
  • Beruhigung
  • Normierung 
  • Unterhaltung
  • Statussicherung
  • Identitätsbildung
  • Leistungssteigerung
  • Unterwerfung Anderer, vornehmlich der Frau
  • sowie als Erklärungsmuster.

Mit Hilfe des sehr quellenreichen, informativen, zugleich aber auch sehr redundant gehaltenen Buches "Der Krüppel", von Klaus E. Müller, lässt sich die Instrumentalisierung des behinderten Mensch auszugsweise (und sicherlich nicht frei von Fehlern) wie folgt skizzieren:


Hierbei lässt sich ein Dreigestirn der Unterdrückung des Behinderten herauslesen: GLAUBE, MACHT und FORTPFLANZUNG gehen in einem Spiel mit der Angst als treibende Kräfte Hand in Hand.
Dem Glauben (auch von Naturvölkern, siehe K.E.Müller) kommt die Funktion der Wertung zu. Er macht den Behinderten aufgrund seiner Andersartigkeit zum Schuld-beladenen Sündenfall und disqualifiziert ihn derart auf moralische Art und Weise. 
Die Macht bedient sich dieser Wertung. Sie setzt zudem auf Stigmatisierung (im Einklang mit der erfolgten moralischen Disqualifizierung), um Behinderte auszugrenzen, sprich zu ex-kludieren. Die praktisch vollzogene Stigmatisierung jedweder Art und Weise dient so v.a. dazu, den Versehrten ex-klusiv werden zu lassen. Diese Ex-klusivität wird gesteigert, indem sich die Macht dem Gegenstück zum Fremden zuwendet - dem WIR. Man könnte von einer negativen Identitätsbildung sprechen: indem das Fremde/ der Behinderte als Gefahr überhöht und detailreich skizziert wird, erscheint schemenhaft das eigene (Volks-) Ich. Dieses wird heroisiert, ent-makelt, zur Norm erhoben.
Von der Norm, der Schuld und dem Sündenfall Behinderung ausgehend entwickelt jede Gesellschaft ihre Regeln und Rituale, um ihre Fortpflanzung zu organisieren.  Fortpflanzung ist keine(!) Freizone von Mann und Frau. Das wird in dem Buch von MÜLLER überdeutlich. Im Gegenteil, es scheint fast nichts so stark reglementiert, wie die Art und Weise in der die Menschen einer Gesellschaft ihr Fort-Bestehen sichern. Ein wirksames Mittel hierzu ist das Aufstellen von Tabus. Das Interessante hierbei, diese Tabus sollen die Gesellschaft davor schützen, behindertes, also widerwärtiges - weil sündiges  -  sowie un-Norm-ales Leben in die Welt zu setzen. Um dies zu erreichen wird um die Frau herum ein regelrechtes Regel- und Ritualmonstrum geschaffen (Schwangerschafts-, Menstruations-, Verhaltens-, Aufenthalts-, Ernährungs-, Betätigungs-, etc.-Regeln). Das Spiel mit der Angst vor dem behinderten Kinde dient letztlich der Unterdrückung der Frau, eine besonders widerwärtige Instrumentalisierung des behinderten Menschen - wie ich finde.

Halten wir fest. Der Behinderte wird seit Jahrhunderten auf mannigfaltigste Art und Weise instrumentalisiert. Derart missbraucht und dabei an den äußersten Rand der Gesellschaft getrieben, dient er als bloßes Mittel zum Zweck.  


Was lässt sich für unser Thema - Inklusion - festhalten?


Nun, zu aller erst denke ich, dass Inklusion jedweder Instrumentalisierung zuwiderlaufen sollte, indem sie die Würde des Behinderten – d.h. ihn in seinem Menschsein, d.h. in seiner Bedürftigkeit – ins Zentrum all ihrer Überlegungen stellt. 

Konkret ergeben sich folgende Forderungen an unser Schulsystem:
  1. Ein Schulsystem das LEISTUNGsNORMEN in den Mittelpunkt seiner pädagogischen Überlegungen stellt, lässt den Behinderten zur Störung werden (bspw. Gymnasien als NonPlusUltra). Eine inklusive Schule setzt demgegenüber ihren Schwerpunkt auf die individuelle Entwicklung jedes einzelnen. Diese wird geWERTschätzt.
  2. Die Ausrichtung des Einzelnen an NORMEN ist zugleich die Ausrichtung an Idealen. Sie ist derart stets auch Ausdruck der Angst vor Individualität. Eine inklusive Schule schafft folgerichtig vielfältigsten und gesicherten Raum zur Entwicklung von Individualität.
  3. MACHT (im klassischen Sinne) zeigt sich u.a. in Paarungen wie Stigmatisierung&Gunst, Unterdrückung&Hofierung, Ämterverwehrung&Ämterzugang, Ent-Stellungen&Anstellungen, Peripheriezuweisung&Zentrierung. Eine inklusive Schule löst diese Paarungen in Richtung Wertschätzung, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Partizipation - und zwar im Herzen der jeweiligen Gemeinschaft (am Puls des jeweiligen Geschehens) - auf.
  4. Die INSTRUMENTalisierung behinderter Menschen zielt u.a., wenn nicht gar vordergründig, auf die Unterwerfung der FRAU. Sie ist Zeichen eines maskulinen, patriarchalischen Machttypus. Eine inklusive Schule stärkt in besonderem Maße die Position der Frauen und Mädchen.
Ich habe in meiner Fortbildungszeit über das Buch "Der Krüppel" eine Literaturpräsentation gehalten (siehe HIER). Am Ende kam die Frage auf, ob ich glaube, dass auch heute noch der Behinderte instrumentalisiert wird, um die Frau zu unterdrücken. Damals fand ich nicht die richtigen Worte. Heute würde ich antworten, dass dem meiner Meinung nach nicht mehr so ist. Eher ist die Situation schlimmer geworden. Mit Michelle FOUCAULT - dessen Analysen und daraus resultierenden Ideen ich sehr überzeugend finde - würde ich antworten, dass sich der Machttypus verändert hat. Vom destruktiven, personalisierbaren (König und Schwert) hin zum produktiven, dezentralen Machttypus (Wissen ist Macht). In der Konsequenz hieße das, dass der Fokus der Unterwerfung (denn letztlich unterwirft auch der neue Machttypus, wenngleich subtiler und raffinierter) nicht mehr einzig auf der Frau liegt, sondern sich auf uns alle erweitert hat. 
Ich werde diesen Gedanken in einem weiteren Beitrag präzisieren. 

An dieser Stelle möchte ich mit folgendem Gedanken enden:

Wenn Inklusionsbefürworter ihre Haltung belegen wollen, so bedienen sie sich nicht selten folgender Argumentation. "Behinderte SchülerInnen tun dem Lernklima einer Klasse gut und beeinflussen die Lernleistung aller positiv“
Worauf weist diese Argumentation, wenn nicht darauf, dass sie ganz im Sinne der zu beendenden Tradition steht? Auch hier wird der Behinderte nicht seiner selbst willen gesehen. Vielmehr wird seine Instrumentalisierung bejaht, da sie Disziplin und Leistung(ssteigerung) hilft sicherzustellen. 

Auf die Frage „Warum Inklusion?“ wäre meines Erachtens die beste aller Antworten: Weil der Behinderte ein Mensch ist und als solcher zurück ins Zentrum der Gemeinschaft gehört. 




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