Donnerstag, 27. Juli 2017

Noten? Bitte frühestens ab Klasse 9. (Teil I).

Acht Fakten, die man in diversen Medien nachlesen kann, lassen aufhören!

A) Ein Freiburger Student bekommt zwei verschiedenen Noten für exakt die gleiche Hausarbeit.
Einmal 5 Punkte - also gerade so bestanden - und einmal 9 Punkte, also "befriedigend" (Spiegel Online 2017).

B) Jungen bekommen in allen Fächern bei gleicher Kompetenz schlechtere Noten als ihre Mitschülerinnen - sagt eine neue Studie des Aktionsrates Bildung und bestätigt damit ein Ergebnis, zu dem auch eine Untersuchung des Bundesbildungsministeriums gekommen ist (Spiegel  Online 2009).

C) Kinder mit Namen Kevin, Justin, Mandy oder Chantal werden von LehrerInnen mit hoher Wahrscheinlichkeit benachteiligt (Tagesspiegel 2009).

D) "Ich benote nach Sympathie", gesteht eine Lehrerin ganz offen und begründet das auf interessante Art und Weise (Spiegel Online 2014).

E) SchülerInnen aus bildungsfernen Familien bekommen bei gleicher Leistung häufig schlechtere Noten als SchülerInnen höherer Schichten (Tagesspiegel 2012).

F) Die Noten eines Kindes hängen häufig davon ab, in welcher Klasse es zufällig gelandet ist (Süddeutsche Zeitung 2012).

G) Unser Bildungssystem erzwingt, dass es SchülerInnen mit schlechten Noten geben MUSS (Süddeutsche Zeitung 2012).

H) Noten sind defizitorientiert (Welt 2017).

Wenn man über diese acht Headlines hinaus die Artikel liest, dann ließe sich zusammenfassend sagen: Noten sind ungerecht und der Entwicklung junger Menschen abträglich.
Doch warum halten wir dann noch immer so starr an Noten fest? 
Zwei Thesen seien hier gewagt:
  1. Um SchülerInnen - im Wechselspiel mit den Eltern - zu disziplinieren. 
  2. Um dem Grundcharakter unseres Schulsystems Rechnung zu tragen - der Selektion.
Ich will diese zwei Thesen hier nicht untermauern. Stattdessen möchte ich - ihre Stimmigkeit voraussetzend - festhalten, dass beide Gründe auf einen Sachverhalt hinweisen, der uns stark zu denken geben sollte: Noten sind nicht im Sinne der SchülerInnen gemacht.

Ich möchte das etwas am Beispiel der Inklusion vertiefen.

Im Grunde haben wir LehrerInnen drei Möglichkeiten zu zensieren.
a) Nach der Leistungsnorm.
Hochsprung in der Schule. SchülerInnen, egal ob groß oder klein, schwer oder leicht, aus Elternhäusern mit hohem oder niedrigem Bewegungsangebot, müssen in die Höhe springen. Benotet wird nach meist schulübergreifenden, manchmal bundesweit geltenden Leistungsnormen. Einsehbar auf der Tabelle in den Händen des/der jeweiligen SportlehrerIn. Note 4? Mindestens 1,10m. Für wen? Für jeden gleich, also für ALLE. 
b) Nach der Sozialnorm.
24 Schülerprodukte liegen auf dem Tisch. Der Lehrer schaut alle Produkte durch und bildet schließlich drei Stapel: links die am besten gelungenen, rechts die am wenigsten überzeugenden und in der Mitte die Produkte einer gewissen Mittelmäßigkeit. Die Noten für die Produkte werden nach der Sozialnorm gebildet, d.h. nach der jeweiligen Abweichung vom Klassendurchschnitt. 
c) Nach der Individuellen "Norm".
Ein Schüler mit großen Lernschwierigkeiten hat in einer Stunde aus einer Liste mit 10 Vokabeln sich vier merken können. In jedem normalen Test hätte er für dieses Ergebnis die Note 5+ bekommen (40% = 3 Notenpunkte). Dieser Schüler konnte sich bisher aber stets nicht mehr als zwei Vokabeln merken, hat sich in seiner Leistung also geradezu um das Doppelte gesteigert. Der Lehrer gibt dem Schüler deshalb eine gute Note. Er honoriert damit den Fleiß und die - für den Schüler - regelrecht außergewöhnliche Leistung. 

Man stelle sich vor, man hat eine Schülerin mit geistiger Behinderung in der Klasse, hinzu noch einen körperlich behinderten Schüler sowie drei SchülerInnen mit Förderstatus Lernen. Welcher der drei Möglichkeiten zur Leistungsbewertung wird diesen SchülerInnen am ehesten gerecht? Welche Möglichkeit gibt am meisten Motivation? Welche beschämt am wenigsten? Und welche erfasst am besten, was der/die jeweilige Schüler/in tatsächlich geleistet hat? 
Diese SchülerInnen werden im deutschen Bildungssystem zwar nach gesonderten Maßstäben zensiert, sie machen aber am besten deutlich, wie hinderlich, ja fast schon absurd, die ersten beiden Bewertungsmöglichkeiten wären, denn diese SchülerInnen würden - bis auf wenige Ausnahmen - IMMER zu den VerliererInnen gehören. Man denke sich nun die Gruppe der leistungsschwächeren SchülerInnen aufgrund bildungsferner, sozial schwierigster Elternhäusern hinzu. Wird unser tradiertes Bewertungssystem diesen SchülerInnen gerechter? Drängt sich die Frage auf, wer eigentlich die Gewinner dieses Systems sind. Nichtbehinderte Kinder aus dem Bildungsbürgertum! Man fühlt sich an BORDIEU und den Begriff des kulturellen Kapitals erinnert...
Bleibt die Leistungsbewertung nach der Individuellen Norm. Hier drängt sich eine andere Frage auf: Wenn ich mich auf die individuelle Leistungsentwicklung eines Kindes beziehe, warum sollte ich diese Entwicklung ausgerechnet mittels einer Note festhalten wollen? Warum Noten? Die individuelle Leistung steht ja v.a. erst einmal für sich. Kein Zwang zum Vergleich, lediglich im Sinne des eigenen Entwicklungsprozesses. Statt Noten könnte man dann tatsächlich auch Farben verteilen (siehe Blogeintrag "Farbe bekennen")

Noten sind ungerecht! Einige Berliner Schulen haben das erkannt und sich vernetzt. Sie gehen einen neuen, einen anderen Weg. Bis zur neunten Klasse verzichten sie auf Noten. Zusammen wollen sie ein einheitliches Konzept der Leistungsbewertung erarbeiten, das auch von anderen Schulen als Alternative zum derzeitigen Noten- und Punktesystem anerkannt wird. Der stellvertretende Vorsitzender des Berliner Verbands der Gesamtschulen (GGG) gibt diesbezüglich ein bemerkenswertes Interview.  

Ein wesentlicher Punkt wird in der Debatte um Noten meines Erachtens jedoch nicht bedacht:
Wenn wir Noten - als Hilfsmittel einer effizienten Selektion ablehnen - warum sollten wir dann an Gymnasien - als Aushängeschild eben jener Leistungsselektion - so unnachgiebig festhalten?

Donnerstag, 6. Juli 2017

Der Schüler ist von Natur aus gut.

Hobbes - Leviathan
Es gibt zwei philosophische, sich widersprechende Positionen zur moralischen Natur des Menschen.
Die eine spiegelt sich in den Worten von Thomas Hobbes wieder: Homo homini lupus est. Der Mensch ist des Menschen Wolf.
Die andere findet sich bei Jean-Jaques Rousseau: Der Mensch ist von Natur aus gut.
Unabhängig davon, inwiefern sich die Natur des Menschen überhaupt bestimmen lässt und welche moralischen Kriterien der jeweiligen Position zu Grunde liegen, als Arbeitshypothesen bieten beide Positionen allerhand Erkenntnispotential - gerade auch in Bezug auf Schule.

Der Mensch ist des Menschen Wolf. Dieser Position liegt v.a. das Prinzip ANGST zugrunde. Die Zivilisation, die Kultur, die Schule gilt hier als Rettung. Ihrer bedarf es, um den Menschen zu bändigen, zu zügeln, zu begrenzen und zu zähmen. 
Eine Schule, die dieses Bild favorisiert, sieht im Schüler als Menschen eine Bedrohung. Ihn gilt es in die Spur zu bringen, zu disziplinieren, zu erziehen. Eine solche Schule setzt folgerichtig auf Ordnung, Bestrafung, Belohnung und Normierung. Etwas zu leisten, d.h. nach gesellschaftlichen Bewertungsschemata zu funktionieren, ist ihr oberstes Gebot. Das Bildungs-SYSTEM ihre Grundlage.

Ganz anders die zweite Position. 
Der Mensch ist von Natur aus gut. Erst die Gesellschaft macht ihn schlecht. Diese Sichtweise Rousseaus wendet sich dem Menschen mit dem Glauben an ihn, d.h. voll HOFFNUNG zu.
Eine Schule, die dieses Bild favorisiert, sieht im Schüler als Menschen das grundsätzlich Gute. Sie versucht dieses Gute zu bewahren, zu schützen, zur Entfaltung zu bringen. Nicht Strafe und Ordnung stehen im Fokus, sondern Schutz und Fürsorge. Eine solche Schule gibt ihren Schülern primär keine Antworten, sondern stellt ihnen vor allem Fragen - Nach ihren individuellen Bedürfnissen. Nach ihren jeweiligen Interessen und Fähigkeiten. Nach ihren konkreten Ängsten und Hoffnungen. Nach ihren Nöten und Lebensverhältnissen. Eine solche Schule vermisst ihre Schüler nicht nach ihren Leistungen, die die Gesellschaft als solche definiert. Vielmehr schafft sie zahlreiche FREI-Räume zur Entfaltung - unter Umständen auch wilder - Individualität. 
Sie richtet zudem ihren Blick kritisch auf Gesellschaft und damit letztlich kritisch auf sich selbst. Sie begrenzt sich folgerichtig, anstatt maßlos und übergriffig zu sein. Sie achtet Transparenz statt Abschottung, Flexibilität statt Starrheit, Partizipation statt Hierarchie, Inklusion statt Aussonderung. Ihr Fundament ist mehr MILIEU denn System.

Schauen wir kritisch auf die Schulen unseres Landes, was sehen wir? Sehen wir eher Hobbes´sche oder eher Rousseau´sche Schulen? Dominiert das Prinzip Angst oder das Prinzip Hoffnung? Forcieren wir Leistungsnormierung oder ermöglichen wir Individualität? 

Und unabhängig davon was wir sehen, was überhaupt wollen wir? 











Freitag, 2. Juni 2017

Mein Leitspruch für gelingende Inklusionsarbeit

"Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern." 

(ERNST BLOCH)

Das ist es! Dieses Zitat sollte sich meines Erachtens jede Schule auf ihre Fahnen schreiben. Entgegen aller Totschlagargumente derer, deren Glas stets halbleer ist. Entgegen aller Widerstände, die beispielsweise in Sätzen daherkommen, wie: "Das haben wir schon immer so gemacht.", "Dafür fehlen die Ressourcen.", "Nicht mit diesem Senat.", "Kann nicht klappen.", "Alter Wein in neuen Schläuchen.", "Irgendwann reicht´s auch." 
Ins Gelingen verliebt sein! Das ist schön! Das Glas halbvoll sehen und jeden einzelnen Schluck genießen. In vollen Zügen denken! Mit aller Kraft an den riesigen Tauen des trägen Tankers Schule zerren! Die Chance feiern und das Wünschenswerte zur Maxime erheben! 
Denken. Handeln. Wege gehen. Wollen.

Inklusion. In Deutschland keine Kann-Option. Sie ist Pflicht. LehrerInnen müssen sich ihr stellen, ob sie wollen oder nicht (siehe von Deutschland unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention).
Mit John F. KENNEDY gesprochen, könnte man aber auch fragen:

"Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?"



Bildquelle:    https://s-media-cache-ak0.pinimg.com/236x/ac/28/27/ac282750fedbf5a40272d2e9c986e811.jpg,  
                       06.07.2017, 01:03 Uhr.


Mittwoch, 31. Mai 2017

Rütli Campus II

Lernen von den Besten

Am 19.05.2017 hospitierte ich erneut in der 10. Klasse von Frau S. und Herrn L., 3./4. Stunde, Deutsch. Auch dieses Mal war die Doppelstunde äußerst smart konzipiert. All die positiven Dinge (schülernahes Thema, hohe Relevanz, fächerübergreifender Ansatz, schnelle Aktivierung, Ermöglichen von Erfolg, Spiel mit der Sprache, Kompetenzorientierung, Effizienz, Vorbildwirken, Selbstreflexion) die ich in meinem letzten Bericht erwähnt habe, trafen wiederholt zu. Es scheint, als seien sie Teil eines sehr gut verstanden Handwerks.
Um mich in dem vorliegenden Bericht nicht zu wiederholen, habe ich beschlossen, mich vom Unterrichtsgeschehen zu lösen und den Fokus noch stärker auf Herrn L. zu legen, der in dem Dreier-Team (Lesepatin, zweite Fachlehrerin Frau S., er) die offensichtlich führende Person ist. Ich möchte einen etwas genaueren Blick auf diejenigen seiner „Techniken“ legen, die den Unterricht meines Erachtens sehr positiv beeinflussen.
Des Weiteren möchte ich mich erneut zur Schulentwicklungsarbeit am Rütli-Campus äußern. Basis hierfür bildet das sich an den Unterricht anschließende Gespräch, in dem sich Herr L. Zeit für unsere Fragen nahm.

Zu 1. „Techniken“ des Herrn L.

„Okay. Und nun mal eine ehrliche Antwort! Was denkt Ihr wirklich.“

Gefragt hatte Herr L. wie die SchülerInnen das Schulfest fanden. Ein Schüler war zu Wort gekommen. Seine Antwort war brav, erinnerte ein wenig an die Floskeln von Fußballprofis, die niemandem wehtun wollen, aber auch keinen berühren. Nach dem Impuls des Lehrers schnellten plötzlich mehrere Arme hoch, offensichtlich hatte er einen Nerv getroffen. Der Subtext seines Impulses war: Ich will wissen, wie es wirklich in Euch aussieht. Das nehme ich ernst, das hat Wert! Schüler ernst nehmen, Meinungen aushalten, die politisch nicht korrekt, manchmal sogar recht grob sind - wie fruchtbar kann das sein! Ich als Gast jedenfalls erhielt wichtige Hinweise darauf, was an dem Fest unrund lief, wo man in Zukunft also mit den SchülerInnen gemeinsam ansetzen könnte.


In eine ähnliche Richtung weist auch folgender Dialogausschnitt, der sich später in der Stunde zutrug.

L.: „Ist das okay für Dich?“
S.: „Alles was sie wollen!“
L.: „Wow, was für eine Antwort!“ 
- seine Stimme zeichnet eine gehobene Augenbraue nach -
„Es lebe die Demokratie!“

Auch hier ein deutliches Signal an die SchülerInnen: Seid kritisch! Seid selbstbestimmt! Redet niemandem nach dem Munde! Bildet Euch Eure eigene Meinung! Werdet mündig! Steht zu Euch! Das hat Wert!
Man fühlt sich an Kant und den Leitspruch der Aufklärung erinnert. Erziehung zur Demokratie (wenn es so etwas gibt), Erziehung mündiger Bürger - hier findet es seinen Platz. Nicht extrahiert im Fach Ethik, sondern eingebunden in die alltägliche Beziehungsarbeit mit den SchülerInnen.


Mündigkeit. Dieses Thema zieht sich durch den Unterricht wie ein roter Faden.

„Was könnte jetzt Eure Aufgabe sein?“

Immer wieder stellt Herr L. den SchülerInnen die Frage, welcher Arbeitsschritt jetzt sinnvoller Weise folgen könnte. Er zwingt sie aus ihrer in Schule so gewohnten Rolle des Unterrichtskonsumenten herauszutreten, mitzudenken und dem eigenen Handeln Sinn zu geben. Er stellt die Sinnfrage bzw. die Sinn stiftende Frage. Das aktiviert die SchülerInnen. Sie nehmen die Herausforderung an. Natürlich ist es so, dass sie z.T. auch gewohnt sind zu antizipieren, welcher Schritt jetzt tradierter Weise sinnvoll wäre. Das Material von Herrn L. liegt ja schon griffbereit zur Hand, die Flexibilität dadurch von Vornherein begrenzt. Ganz so frei sind sie im Folgen ihres eigenen Sinns also nicht. Aber, Herr L. ist hier viel weiter als viele andere LehrerInnen Berlins, deren Unterricht sich zu großen Teilen - methodisch durchaus innovativ - regelrecht über die SchülerInnen ergießen.


Erdogan besuchen.

Dieser Wunsch findet sich neben anderen Wünschen zur Wandertagsgestaltung auf einem großen Plakat im Klassenzimmer. Er hat hier seinen Platz. Ich kenne die Geschichte um diesen Satz herum nicht, aber ich bin mir sicher, dass Herr L. ihn ohne moralischen Zeigefinger schwingend hat notieren lassen. Ganz dem Motto: Eure Meinung ist wichtig! Steht zu dem was ihr fühlt! Habt Mut Euch zu äußern! Macht Euch stark für Eure Wünsche, Eure Gefühle! Das hat Wert! Ihr habt Wert!

Ihr habt Wert! Qua dessen, dass ihr seid! Qua dessen, dass ihr Euer Sosein in die Welt tragt, sie bunt werden lasst! Und nicht, weil ihr genügt, weil ihr gehorcht, weil ihr funktioniert, weil ihr erfüllt, weil ihr leistet. (Wie spürbar die Diskrepanz zwischen geschriebenem Wort und gewöhnlichem Schulalltag!)
Wir sollten mit SchülerInnen wertschätzend umgehen. Okay. Fragen wir aber auch nach ihren Werten? Nach den Dingen, die ihnen wichtig sind? Nach dem Wert unserer Unterrichtsinhalte für sie (nicht für ihren Abschluss oder curriculare Vorgaben)? Wie oft fragen wir uns, ob unsere Be-Wertung auch wert-schätzend ist? Wie oft gehen wir mit uns hart ins Gericht, wenn unser Verhalten ent-wertend war?


Herr L. möchte ein Feedback. Er nimmt fast jeden blitzlichtartig dran. Zeit, ca. 2 Minuten.

Von der aktivierenden Funktion dieser Lehrerhandlung, was könnte sie darüber hinaus bewirken?
Ich glaube, dass sie dazu führt, dass sich die SchülerInnen erneut gesehen fühlen. Oftmals wird ein Feedback erwünscht, nach zwei, drei Meldungen aber ist der/die Lehrer/in zufrieden und es geht weiter im engen Rhythmus der Schule. Aber was ist das für ein Feedback, was sich nach zwei, drei Meldungen erschöpft? Ist das nicht so, als ob wir auf dem Elternabend ein Feedback einholen und sich nur die Elternvertreter zu Wort melden würden? Was ist mit den womöglich Müden, den Frustrierten, den Träumern, den Kreativen, den Desinteressierten, den Überforderten, den Unterforderten, den kulturell Barriere-ten, den Lustlosen, den Schlafmützen, den Nörglern, den …, die alle nicht zu Wort gekommen sind? Lebt ein Feedback von Vielfalt? Lebt Unterricht von Feedback? Lebt Unterricht von einem vielfältige Feedback? Laut HATTIE JA!


Herr L. zählt laut, wie viele sich melden.
Herr L. führt Redelisten: „Erst Manja, dann Ali, dann Max, dann Zeynep!“ (Namen geändert).

Ein großer Nachteil von Frontalphasen im Unterricht ist, dass auf eine Frage stets auch nur ein Person zur gleichen Zeit antworten kann (Das ist bei der Fishbowl-Methode ganz anders). Eine/r von X. Eine/r von bspw. 24. 1/24! 4 Prozent. Wow, wie frustrierend! Als SchülerIn ist die Chance sich äußern zu dürfen, also extrem gering. Macht melden da noch Sinn?
Herr L. federt diesen widrigen Umstand ab. Erst zählt er laut, wie viele sich melden, um derart so viele SchülerInnen wie möglich zu einer mündlichen Äußerung zu bewegen. Dann belohnt er ihr Melden durch eine Sicherstellung des Dran-genommen-werdens. Derart bleiben die Schülerinnen, die sich gemeldet haben auch beim Geschehen, verfolgen das Unterrichtsgespräch. Die Redeliste lässt aus 4 Prozent Wahrscheinlichkeit 100 Prozent Sicherheit werden. Macht melden unter diesen Umständen Sinn? Keine Frage, das tut´s!


„Ihr habt Eure Meinung kund getan. Aber, anhand welcher Beispiele könnt ihr diese Meinung belegen? Nennt Beispiele!“
„Passt deine Antwort zu dem, was SchülerIn X gerade gesagt hat?“

Zwei Impulse. Ein Anliegen. Hin zum nächsthöheren Anforderungsbereich!
Es war schön zu sehen, wie Herr L. immer wieder seine SchülerInnen dazu auffordert, sich nicht in Ein-Wort-Antworten zu erschöpfen. Im Gegenteil, er fordert sie heraus. Vertiefung, Transfer, Verknüpfungen, In-Bezug-Stellen, Begründen, usw.


Ein paar rote Linien auf dem ganz normalen Arbeitsblatt.

Inklusion unter diesen Umständen - niemals! Differenziertes Arbeitsmaterial - wann soll ich das noch schaffen! Herr L. arbeitet unter diesen Umständen. Er macht das inklusiv. Differenziert hat er auch. Mittels ein paar roter Linien. Geschätzter Arbeitsaufwand hierfür ungefähr zehn Minuten. Rote Linien als Orientierungshilfe, als Arbeitserleichterung, als Textreduzierung, als eingebaute Erfolgsaussicht für die SchülerInnen mit Status Lernen (Warum schreibe ich den Status auf. Spielt er eine Rolle?).


Auf den Tischen liegen Briefumschläge A4.

In den Briefumschlägen liegt das Material für die SchülerInnen. Sicherlich dienen Herrn L. die Briefumschläge auch dafür, bei Gruppenarbeit Herr über das vielfältige Material zu sein (Ordnungsfunktion). Weit interessanter finde ich aber den angenommenen psychologischen Wert. Briefumschläge suggerieren eine Adressaten-Gerichtetheit. Ups, ein Briefumschlag. Für mich? ich will es nicht überbewerten, aber auf mich haben derlei Umschläge unterschwellig motivierenden, ansprechenden Charakter.


„Immer begründen. KOMMA WEIL. Immer begründen!“

Wahrscheinlich können die SchülerInnen von Herrn L. diesen Satz schon singen. Schön für sie, denn in den Prüfungen oder bei Bewerbungsschreiben werden Ihnen derlei verinnerlichte Merksätze sicherlich dienlich sein. Gleiches gilt für:


„Warme Dusche, kalte Dusche“.

Diese Sprachbilder stehen für das Feedback geben. Warme Dusche, kalte Dusche meint erst das Positive, dann das zu Verbessernde nennen. Sprachbilder dienen hier also als Trigger, als Codes für Handlungsabfolgen. Das ist lernpsychologisch gesehen bestimmt sehr effizient.


„Yallah. Hm, wie das geschrieben wird? Schau mal nach, ob das im Duden steht.“

Verknüpfung der Lebens- und Sprachwelt mit Lern-/ Kulturtechniken. Auch hier ist der Schüler oder die Schülerin wertgeschätzter Ausgangspunkt seines/ ihres Lernens.


Die für mich interessanteste Technik zum Schluss. Sie scheint mir psychologisch äußerst klug.
Herr L. beendet die Stunde mit einem Lob an die gesamte Klasse, dann wird noch etwas differenzierter gelobt. Den SchülerInnen bekommt das gut, das ist zu spüren. Das Interessante daran, die Stunden ist noch gar nicht zu Ende. Im Anschluss an das Lob stellt Herr L. noch eine inhaltliche Frage. In ihr mündet sein Unterricht. Es fühlt sich an, als ob die gesamten Doppelstunde nur auf diese Frage hin ausgerichtet war. Die Stunde erreicht von der Stundenprogression her ihre höchste Stufe. Die SchülerInnen werden aufgefordert einen Transfer zu bilden. Mit dem Lob im Rücken schnellen mehrere Finger empor. Fantastisch.


So viel zu den Techniken und Kniffen von Herrn L.
Partizipation, Transparenz, Wertschätzung, Feedbackkultur. All das findet sich hier wieder. Wohltemperiert, maßvoll, umsichtig, zielfokussiert. Erneut muss ich an HATTIE denken. Auf den Lehrer kommt es an! Wie Recht er doch hat...



Zu 2. Schulentwicklung am Campus Rütli

Schon in meinem ersten Bericht bin ich auf die Schulentwicklungsarbeit an der Rütli eingegangen. Im an die Doppelstunde Deutsch anschließenden Gespräch mit Herrn L. war sie erneut Thema. Folgende Dinge finde ich erwähnenswert:

  1. Pilotprojekte - Herr L. berichtete darüber, dass mehrere KollegInnen seiner Schule sich für die Abschaffung von Noten interessieren. Zwei von ihnen dürfen nun in einem Pilotprojekt ihre Ideen notenfreien Lernens umsetzen. Als Pioniere sammeln sie Erfahrungen und lassen diese über eine Evaluation ins Gesamtkollegium einfließen, das dann zu einem späteren Zeitpunkt darüber diskutiert, ob die ganze Schule sich in diese Richtung aufmachen sollte. Diese Praxis finde ich derart anregend, dass ich am liebsten gleich an diese Schule wechseln möchte.
  2. Evaluation - Dieses Verfahren scheint an der Rütli zur Arbeitskultur dazuzugehören. Herr L. erzählte u.a., dass der Fachbereich GW die Arbeit mit den Kompetenzrasterheften - die im Fachbereich als Team erarbeitet wurden - ausgewertet hat. Dabei wurden Fehler, Sackgassen und Erfolgsbarrieren erkannt, die der Fachbereich nun versucht zu beheben. Das nenne ich professionelles Arbeiten.
  3. Kompetenzausrichtung - Schon die Kompetenzrasterhefte zeigen den Stellenwert, dem man den im Rahmenlehrplan verankerten Kompetenzstufen beimisst. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt Schulen in denen eine nicht kleine Zahl an LehrerInnen Kompetenzen mit dem Satz abtut: „Alter Wein in neuen Schläuchen!“, um dann so weiter machen zu können wie bisher. An der Rütli nimmt man sich im Fachbereich GW des Themas voll an. Herr L. berichtete, dass man den neuen Fachbrief Nr. 26 „Leistungsbewertung“ als Grundlage genommen hat, um unter der Fragestellung „Was sollen unsere SchülerInnen können müssen?“ Leistungskontrollen zu konzipieren. Von diesen Konzepten ausgehend erschlossen sich die Inhalte. Bewusst wurde hier also mit dem gewöhnlichen Weg gebrochen - erst der Inhalt, dann der Test. Nein, hier hieß es: erst die Kompetenz, dann die Standards, dann die Themen/Inhalte. Das „Pferd wird hier also von hinten aufgezäumt“. Wird es gar besser gezäumt? Es gibt Unterricht, der spannend und gut ist und gleichzeitig hinsichtlich der Kompetenzorientierung mit nur geringer Wirkung. Der Weg der Rütli könnte vielleicht beides vereinen.




Dienstag, 30. Mai 2017

Trainiert uns in Kommunikation!

Mit einer meiner Lerngruppen bin ich zu Gast in einer anderen Schule, wo wir deren Sporthalle nutzen dürfen. Auf dem Weg zu den Mädchenumkleiden haben zwei "meiner" Schülerinnen (13 Jahre) eine vorbeilaufende Grundschülerin bedroht. Sie dürfe nicht in das obere Stockwerk gehen, wo wir Sport haben, da dort ein ein Verrückter auf sie warte, der ihr Gewalt antun würde. Danach wurden sie handgreiflich, rüttelten das Mädchen an ihren Schultern gepackt kräftig durch und drohten ihr erneut. 
Der "Fall" landete bei mir, als eine besorgte Lehrerin der Grundschule mitten im Unterricht auf mich zutrat und um Klärung des Vorfalls bat. Ich brach den Unterricht ab. Dann Zeugenbefragung und so weiter. Nach Klärung der Sachlage führte ich den Unterricht fort, an dessen Ende ich die beiden Mädchen zur Rede stellte. Was sich in diesem Gespräch zutrug war unglaublich! Es war der Prototyp eines Konflikt-Gesprächs zwischen Lehrer (mir) und einer der beiden Schülerinnen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommt. Das Gespräch strukturierte sich in vier Phasen:

1. Leugnen (Lügen, Abstreiten)
"Ich?" - ungläubiges Gesicht, nahe am Entsetzen. "Ich, ich habe nichts gemacht!" Diese Phase allein finde ich jedes Mal auf´s Neue hochgradig beschämend, befremdlich und unglaublich rätselhaft. Man kann es förmlich fühlen, wie sehr hier von der Wahrheit abgerückt wird und schlimmer noch, man fühlt auch, dass es der Gegenübersitzenden ganz ähnlich ergehen muss. Diese Diskrepanz zwischen Mimik, Gesagtem einerseits und der Tat andererseits, sie schreit zum Himmel! Es ist ein schamloses Ins-Gesicht-Lügen und irgendwie auch eine beeindruckende schauspielerische Leistung. Sie gefährdet die in Schule von Schülern und Lehrern gemeinsam umhegte und so überaus kostbare Pflanze namens Vertrauen. 

2. Bagatellisieren
Ein Pokerface ist immer ein Face auf Zeit. Früher oder später bekommt es im Angesicht der kalten Fakten kalte Füße. Dann folgt Phase 2. 
"Ja, okay, ich war dabei. Die Grundschülerin kam auf uns zu, hat uns gefragt, wer wir sind. Wir wollten mit der gar nicht reden. Das haben wir ihr gesagt."
Oh, das war es schon? Da haben die vier Zeugen etwas ganz anderes berichtet. 
Erneut gehe ich auf die unabhängig voneinander getroffenen Aussagen der Grundschülerin, ihrer Freundin sowie zwei Schülerinnen aus meiner Klasse ein. Das Gespräch wird nun zäh, denn es wird jetzt um die Wahrheit gerungen bzw. um die eigenen Reputation gekämpft, die durch Phase 1 ja leider schon etwas gelitten hat. Als Lehrer gilt es beharrlich zu sein, dann folgt Phase 3.

3. Schuld umkehren
"Krass, früher in ähnlichen Fällen hat nie ein Lehrer auf so etwas reagiert, aber jetzt, jetzt auf einmal wird daraus ein großes Ding gemacht." Diese Reaktion ist ähnlich der, die man viel häufiger hört und die exakt in die gleiche Kerbe haut: "IMMER ICH!" Dem Lehrer wird hier tiefenpsychologisch der Schwarze Peter zugeschoben. Die Täterin macht sich hier zum Opfer! Es geht auf einmal gar nicht mehr um den Fall und die Fakten, das eigene Fehlverhalten und die sperrige Möglichkeit einer Entschuldigung, nein, auf einmal wird auf einer Metaebene die scheinbare Ungerechtigkeit des Zur-Rechenschaft-Ziehens in den Vordergrund geschoben. Ich habe schon oft erlebt, wie mir in dieser Phase als Lehrer die Kontrolle des Gesprächs entglitten ist. Auf einmal wird es ganz diffus und haarig. Betritt man diesen Pfad des Gesprächs, d.h. verlässt man seine vorherige Linie, um sich hier zu rechtfertigen, hat der Schüler in 9 von 10 Fällen gewonnen. Die Konsequenz ist dann oftmals, dass der Schüler es tatsächlich schafft - außer des Streitgesprächs mit dem Lehrer - relativ ungeschoren davon zu kommen. Schlimmer noch, er schafft es oftmals den Lehrer derart unter (moralischen) Druck gesetzt zu haben, dass dieser sich kurz vergisst, den Pfad der Tugend tatsächlich aus den Augen verliert und somit dem Schüler nachträglich und ganz unfreiwillig doch Recht gibt. Denn nun beginnt der einstige Täter tatsächlich zum Opfer zu werden (Ein auf ein sitzendes Kind schreiender Lehrer! Wer ist hier in den Augen Außenstehender Täter und wer Opfer?). 

4. Verantwortung abgeben
"Wär ich heute bloß zu Hause geblieben, dann wär das alles nicht passiert!" 
Die Schülerin beschreibt sich als Opfer des Schicksals (die Täterin macht sich also zum wiederholten Male zum Opfer). Sie stilisiert sich als Opfer höherer Mächte. Passiv ist sie eine vom Leben Getriebene. Kein Gedanke daran, dass sie auch zur Schule hätte gehen und wählen können zwischen Drohen und Nicht-Drohen. Nein, diese Wahl schien sie irgendwie nicht gehabt zu haben. 
Verantwortung, Schuld, Selbstbewusstsein - diese Drei gehen hier Hand in Hand einen unschicken Gang. Wer das Schicksal in moralischen Fragen höher wähnt als das eigene Selbst, dem mangelt es ganz offensichtlich an Selbst-Bewusstsein. Wem es derart an Selbstbewusstsein mangelt, der kann im Schatten dieses übermächtigen Schicksals keinerlei Schuld tragen. Woher soll so jemand ein Gefühl für Verantwortung bekommen?


Warum schreibe ich das auf? 
WEIL ich mich frage, wo in unserer Ausbildung wir die Art zielorientierter, schuladäquater  und gewaltfreier KOMMUNIKATION erlernen? Ich kann mich an keinen derartigen Baustein meines Studiums oder Referendariats erinnern. 
Ich selbst habe mich heute im Gespräch nicht ganz kontrollieren können. Auf einer Skala von 1-10 würde ich mir eine 6 geben. Den Schwarzen Peter habe ich mir zwar nicht unterschummelnd lassen (das ist gar nicht mal so schlecht), aber mein Ton war aggressiv. Zu aggressiv. 

Wenn Inklusion heißt, dass man keinen Schüler und keine Schülerin beschämt, wenn es bedeutet, dass man auch SchülerInnen aus schwierigsten Verhältnissen und mit schwierigsten Persönlichkeiten die Hand reichen sollte, gilt das dann nicht auch und gerade für die schwierigsten Situationen, bspw. einen Konflikt? SchülerInnen, die nicht gelernt haben Verantwortung zu übernehmen, SchülerInnen, die zu Hause selbst erniedrigt werden oder Beschämung und Gewalt erdulden müssen, woher sollen sie wissen, wie man mit Schuld und Verantwortung adäquat umgeht? Was müssten wir LehrerInnen lernen, damit wir von diesen SchülerInnen auch in schwierigsten Situationen nicht abweichen und was müssten wir lernen, um uns gleichzeitig vor ihren Fallen, Tricksereien und Nebelkerzen zu schützen? Und letztlich: Inwieweit müsste ein Fach Namens KOMMUNIKATION verbindlich und in welchem Umfang für die Lehrerausbildung festgeschrieben sein?

Anbei ein paar Literaturvorschläge:
(Weitere folgen)



Donnerstag, 6. April 2017

Gute Schule.

"Was ist eine gute Schule? Was ist guter Unterricht? Wie entsteht ein gutes Schulklima? Was zeichnet eine gute Schulleitung aus?
In dem 2009 erstmals veröffentlichten Karteikasten „Gute Schule“ geben Berliner Lehrkräfte und andere Fachleute aus dem Bildungsbereich Antworten auf diese und ähnliche Fragen.
Die Karteikarten enthalten knapp und überschaubar grundlegende Informationen und praktische Hinweise zu den Themenbereichen Lehr- und Lernprozesse, Schulkultur und Schulmanagement.
Mit der zweiten überarbeiteten Ausgabe liegt ein Ratgeber aus der Praxis für die Praxis vor, der neue Themenbereiche wie die Lernausgangslage, Rechenstörungen, Demokratieerziehung und Cyber-Mobbing umfasst."

So heißt es auf der Senatsseite. Und tatsächlich, der Karteikasten macht interessante Angebote sowohl hinsichtlich der eigenen Unterrichtsgestaltung als auch der Schulentwicklung. Lesenswert!

Download hier.


Quelle:    https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/gute-schule/, 06.04.2017, 15:24Uhr. 

Donnerstag, 23. März 2017

Rütli Campus I

Lernen von den Besten

Am 03.03.2017 war ich im Rütli-Campus hospitieren, Doppelstunde Deutsch, 10. Klasse. 
15 SchülerInnen, zwei LehrerInnen, eine Lesepatin. Ressourcentechnisch ein absoluter Traum! Und so war auch die Stunde! Ist das nicht logisch? Wenige SchülerInnen + viele PädagogInnen = guter Unterricht? Diese Formel ist so verlockend, auch bzw. gerade in ihrer Umkehrung (Viele SchülerInnen + wenig PädagogInnen = schlechter Unterricht) und könnte so ganz als Erklärung für Gesehenes herhalten. Doch wie Unrecht würde man dem LehrerInnenteam tun, wie wenig deren grandiose Leistung sehen! Die viel interessantere Antwort ist demnach: was diese KollegInnen aus dem ihnen zur Verfügung Stehenden gemacht haben (stark heterogene Schülerschaft, kleiner, technisch schlecht ausgestatteter Raum, nahendes Wochenende, viele SchülerInnen mit Migrationshintergrund und damit einhergehend wahrscheinlicher Sprachverständnisschwierigkeit), das war tief beeindruckend und meines Erachtens nah am Maximum dessen, was in diesem Schnittpunkt von Zeit und Raum möglich gewesen ist. Woran lag es?

1. Fachkompetenz sowie methodisch-didaktische Kompetenz
Die gezeigte Doppelstunde war meines Erachtens eine v.a. überaus intelligent gemachte Stunde. Sie war schlüssig/ in sich stimmig, zielfokussiert, mehrschichtig, pointiert, motivierend und transparent. Sie war nicht beliebig, nicht belanglos, nicht über- und nicht unterfordernd. Sie hatte Biss, ohne zu hohen Druck zu erzeugen und sie bot Entspannung, ohne den Biss zu verlieren. Es war Unterricht in seiner originärsten Bestimmung. Was wurde konkret geboten?
  • Schülernahes und aktuelles Thema. Dieser Punkt klingt so banal. Ist das nicht selbstverständlich? Doch wie oft sieht die Realität in Schule ganz anders aus? Hier jedoch wurden zum Anfang der Stunde zwei FakeNews (Stundenthema mit hoher Aktualität) an die Wand projiziert: „Angela Merkel - Haschanbau im Kanzleramt“ im Layout einer Facebookseite (beides adressatengerecht) sowie „Flüchtlingen rauben jedem dritten Deutschen die Kinder“ im Stiele einer BILDzeitungsseite (beides ebenfalls adressatengerecht). Das war der Stundeneinstieg und die SchülerInnen nahmen ihn dankbar an, waren gleich bei der Sache. Diese Motivation hielt sich bis zum Stundenende und wurde durch folgenden Punkt noch verstärkt. 
  • Hohe Relevanz. Wer sich beim Thema noch nicht abgeholt sah, der bekam vom LehrerInnenteam ein weiteres Angebot unterbreitet. Denn das, was in der Stunde geübt werden sollte, die Kompetenz, der man sich zuwenden wollte, war in hohem Maße MSA-relevant. Diese Relevanz wurde nachhaltig kommuniziert, d.h. frühzeitig festgestellt und während der Stunde wiederholt betont.
  • Fächerübergreifender Ansatz. Was den SchülerInnen trotz gebotener Transparenz glaube ich nicht bewusst wurde, ist der Umstand, dass die Doppelstunde Deutsch sehr fächerübergreifend orientiert aufgebaut war. Folgende Themen wurden in der Gruppenarbeits-/Hauptphase bearbeitet: „Wo unser Rohöl herkommt?“ (Erdkunde), „Haltungsformen von Hühnern“ (Ethik, Biologie), „Buch und e-Book“ (Deutsch, Ethik, Wirtschaft), „Wasserverbrauch und virtuelles Wasser?“ (Erdkunde, Ethik), „Die Deutschen und ihr Eis“ (Deutsch), „Essbare Stadt“ (Erdkunde, Biologie, Ethik, Wirtschaft). Deutlich hieran wird, dass den SchülerInnen während der Stunde mehrere Möglichkeiten geboten wurden, sich in ihren Interessen wiederzufinden. Ihnen wurde regelrecht ein Blumenstrauß der Möglichkeiten zu Füßen gelegt. Wussten die SchülerInnen dies zu schätzen? Ja! Mit reger Mitarbeit zahlten sie den geleisteten Input zurück.
  • Schnelle Aktivierung, hohe Impulsrate. 12 Minuten nach Stundenbeginn war jeder einzelne Schüler und jede einzelne Schülerin über ihren ersten schriftlichen Arbeitsauftrag gebeugt, der Kopf rauchte. Ein Zurücklehnen, ein andere für mich arbeiten und mitdenken lassen, epische Lehrervorträge und/oder Ping-Pong-Dialoge zwischen wenigen, das alles gab es hier nicht. Stattdessen wurden meist alle SchülerInnen schriftlich oder mündlich aufgefordert, angesprochen, durch Impulse unter einer gewissen produktiven Spannung gehalten. Es galt dabei zu bleiben, mit- und weiterzudenken, nachzuhaken. Und zwar 90 Minuten lang. D.h. nicht, dass es nicht auch Entspannungsmomente gab, die gab es. Sie wurden allein schon durch die wechselnden Sozialformen angebahnt. Aber, selbst diese Entspannungmomente waren zielgeleitet. Dahinter verbirgt sich meines Erachtens eine Grundhaltung der LehrerInnen, nämlich ein sehr hoher eigener Arbeitsethos sowie eine einhergehend hohe Anspruchshaltung. Ich persönlich finde beides extrem positiv. LehrerInnen haben nicht zuletzt auch hier Vorbildcharakter, oder nicht? Sagen wir es so, wenn sie zugleich die Möglichkeit auf individuellen Erfolg gewährleisten, dann ja.
  • Möglichkeit auf persönlichen Erfolg. Je höher die allgemein gültigen Maßstäbe, desto höher die Wahrscheinlichkeit des persönlichen Scheiterns. Was aber, wenn ich den für alle geltenden Maßstab individuell maximiere? Oder anders ausgedrückt, wenn ich den Maßstab individuell maximiere und ihn damit überhaupt erst für alle sinnvoll geltend werden lasse? Dann kommt exakt das heraus, was bei Frau S. an der Paula-Fürst-Schule in goldenen Lettern eingerahmt im Klassenraum hängt: „Jeder gibt sein(!) Bestes!“ Diese Prämisse als Maßstab gedacht ergibt eine für Unterrichtsplanung hoch interessante Frage: Wenn jemand in meinem Unterricht sein Bestes gibt, gewährleiste ich ihm dann auch den maximalen Erfolg? Wie oft wird diese Frage in Schule wohl mit NEIN beantwortet? Und wie oft ist dieses Nein in Schule strukturell verankert? Dem Schüler Misserfolg bereiten als Strukturmerkmale herkömmlicher Schule? Schule als Misserfolgserlebnisanstalt? Allein beim Schreiben dieser Zeilen lässt es einem das Herz zusammenziehen. Wir müssen uns neu ausrichten. Dann kann Unterricht den maximalsten aller Ansprüche stellen und dennoch bzw. gerade deshalb größtmöglichen Erfolg gewährleisten. Womit wir zurück beim Rütli-Campus wären und dieser einen speziellen Doppelstunde. Höchstmöglicher Anspruch seitens des LehrerInnenteams an sich und alle(!) SchülerInnen, gekoppelt mit der Aussicht auf Erfolg. Hier ging beides - gestützt durch differenziertes Material, individuelle Hilfestellungen, persönliche Wertschätzung, individuelles Lob, maßgeschneidertes Feedback, bewusst heterogen geplante Gruppenzusammenstellung sowie offenen Fragestellungen - Hand in Hand.
  • Spiel mit der Sprache. Sprache kann Nähe und Distanz schaffen, ein Wir oder ein Ihr betonen, Ansprüche andeuten, aber auch Relativitäten betonen, sie kann Lachen und Grübeln gleichermaßen forcieren. Dieses Wechselspiel des Sprach-Möglichen wurde von den LehrerInnen des Rütli-Campus´ meines Erachtens absolut beherrscht. Sie boten durch ihre unterschiedlich gewählte Ansprachen (humorvoll, streng, wertschätzend, privat, formell, metaphorisch, klar, …) den SchülerInnen die Möglichkeit, sie als etwas zu sehen, das über die klassische Lehrerrolle weit hinausging: als Menschen, als Individuen, als Wohlgesonnene, als kritische Partner, als Unterstützer, als Wegbereiter, als Bedürftige, als im selben Boot Sitzende. Nähe und Distanz bildeten hier ein wohltemperiertes und gewinnbringendes Gleichgewicht. Für dieses LehrerInnenteam hätte ich auch mein Bestes gegeben!
  • Kompetenzorientierte Stundendramaturgie. Am Stundenende wurden die SchülerInnen aufgefordert, erneut die Folien des Stundenanfangs, allerdings mit dem in der Stunde Erlernten, zu überprüfen. Hiernach sollten sie die Metaebene betreten, um Erkenntnissätze betreffs des Stundeninhalts zu formulieren (5 Tipps zum Verstehen von Grafiken). Der Stundeneinstieg war demnach kein Zufall. Er erschöpfte sich nicht in seiner Wirkung als Initialzündung. Er wirkte vielmehr (wie der Rest der Stunde auch) auf ein einziges Ziel hin, nämlich das während der Stunde exemplarisch Erlernte am Stundenende (MSA-)relevant zu verallgemeinern. Am Ende der Stunde schloß sich also der Kreis. Hier wurde der wahre Mehrwert der Stunde generiert. Die Dramaturgie: Exemplarisch im Detail - Exemplarisch in die Breite - Verallgemeinerung des Exemplarischen. Dieses Vorgehen ist die Grundlage von Kompetenzerwerb.
2. Team-Teaching
Einen weiteren Grundstein des Erfolgs sehe ich in dem recht gelungenen Teamteaching. 
  • Vervielfachung der Ressourcen. Fall A) 15 SchülerInnen, ein(e) Hauptpädagog(in), zwei PädagogInnen mit nur disziplinierender Aufgabe. Wenn alle SchülerInnen gleichzeitig eine Frage hätten, könnte das Team ca. sieben Prozent aller SchülerInnen gleichzeitig beraten und unterstützen. Fall B) 15 SchülerInnen, drei PädagogInnen, alle mit beratender und unterstützender Funktion. Wenn alle SchülerInnen gleichzeitig eine Frage hätten, könnte das Team exakt 20 Prozent aller SchülerInnen gleichzeitig beraten und unterstützen. Fall C) 15 SchülerInnen, drei PädagogInnen, alle mit beratender und unterstützender Funktion. Das Team entscheidet sich für leistungsdifferenzierte Gruppen, die SchülerInnen sind angehalten und gewohnt sich gegenseitig zu helfen, d.h. kooperativ zu arbeiten. Fragen, die jetzt an die PädagogInnen gestellt werden, sind demnach nur nur noch Fragen, die die Gruppe nicht in der Lage ist alleine zu lösen. Es sind Gruppenfragen. Wenn alle Gruppen nun gleichzeitig eine Frage hätten, könnte das Team exakt 60 Prozent aller Gruppen gleichzeitig beraten und unterstützen. 60% aller SchülerInnen wären angesprochen. Hinzu kommt, da die SchülerInnen sich selbst unterstützen, wird das Team fiel seltener von der Lerngruppe beansprucht, d.h. die einzelnen PädagogInnen könnten gezielter diejenigen SchülerInnen beobachten, aufmuntern unterstützen, versorgen und ggf. unterstützen, die das am meisten benötigen. Was für ein Zauber! Von 7 auf 60%! Man muss kein Prophet sein um festzustellen, das Unterrichtsstörungen abnehmen und die allgemeine Zufriedenheit aller zunimmt. 
  • Vorbildcharakter und Blaupause. Wenn sich KollegInnen - wie die drei PädagogInnen vom Rütli-Campus - vor einer Lerngruppe gegenseitig wertschätzen, wenn sie sich zu Wort kommen lassen und ihre unterschiedlichen Beiträge als Bereicherung begreifen, wenn sie sich das Feld überlassen, um sich gegenseitig in ihrer Autorität zu stützen, wenn sie gelöst miteinander lachen und gleichzeitig die Gruppe gemeinsam auf ein Ziel einschwören, wenn sie das tun, welche Verhaltensmuster werden dann ihre SchülerInnen zeigen? Wer so ein Vorbild abgibt, darf der von seinen SchülerInnen womöglich mehr erwarten und wird weniger enttäuscht werden? Ich glaube, ja. 
3. Beziehungsarbeit
Die Beziehungsarbeit des LehrerInnenteams geht über das übliche Maß hinaus. Vielleicht auch das ein Baustein des Erfolgs. Herr L. erzählte uns, dass er die Klasse bereits vier Jahre betreut. Anfangs gab es große Schwierigkeiten. Er und sein Team reagierten und machten neben vielen Klassenkonferenzen noch mehr Hausbesuche. „Ich kenne eigentlich alle Eltern, weiß wie die Schüler zu Hause leben.“ Manchmal wurde auch zusammen ein Tee getrunken, vielleicht dadurch Barrieren und Hürden abgebaut, die andernfalls ein erfolgreiches Miteinander deutlich erschwert hätten. Das ganzheitlichere Verständnis seine SchülerInnen betreffend sowie ein tiefergehendes Vertrauensverhältnis aller Beteiligten erleichterte Hr. L. und seinem Team möglicherweise auch das spätere Anbahnen bzw. gemeinsame Beraten geeigneter Lauf- und Schulbahnentscheidungen (Praxislernen ja/nein?, Statusaberkennung ja/nein, Überprüfungsverfahren ja/nein?, Teilnahme an Schulfahrten ja/nein, usw.). Ebenfalls ist davon auszugehen, dass die SchülerInnen diejenigen LehrerInnen anders betrachten, die von ihren Eltern in deren zu Hause im besten Falle wohlwollend als Gäste aufgenommen wurden, die den Mut aufbringen, ihre eigene Comfortzone zu verlassen, um sich auf eine Kommunikation mit womöglich umgekehrten Vorzeichen einzulassen, die sich letztlich für mehr interessieren als um die bloße Schulleistung des Einzelnen

4. Lehrerpersönlichkeiten
Ich habe bereits über den hohen und spürbaren Arbeitsethos sowie die hohe Anspruchshaltung des LehrerInnenteams gesprochen. Was ebenso spürbar war und meines Erachtens Erwähnung verdient ist die Eigenschaft, sein eigenes Handeln kritisch zu reflektieren, zu hinterfragen und gff. als zukünftige Handlungsoption zu verwerfen. Der Lehrer als Lernender, als sich ständig im Prozess Begreifender, als Fehlbarer, als Innovator, als Reiter ohne hohes Ross. Der Lehrer, der seinen Fehlern Gewinn abringt, der Scheitern als Chance begreift. Hr. L. scheint mir ein derartiger Lehrer zu sein. Er hatte sein Referendariat auf einem Gymnasium in Westdeutschland gemacht. Dann kam er nach Berlin. Rütli war für ihn auch ein Schock. Seine Worte betreffs seiner Anfangszeit am Rütli-Campus: „Ich musste meine Lehrerrolle völlig neu denken. Das habe ich getan.“ 
Die SchülerInnen die da sind, sind die besten SchülerInnen die wir haben. Sie unterstehen unserem verantwortungsvollen Handeln. Wer so denkt, der beschwert sich nicht darüber, was SchülerInnen (angeblich) alles nicht können, sondern schafft die Voraussetzungen dafür, dass eben diese SchülerInnen Erfolg haben werden. Dieses Credo, diese Haltung, macht meines Erachtens einen guten Lehrer aus.

5. Drop-Down-Prozesse und buttom-up-Effekt
Wir hatten bei unserem Besuch am Rütli-Campus 25 Minuten Zeit, um mit einer Vertreterin der Schulleitung ins Gespräch zu kommen. Eine interessante Persönlichkeit mit einem Faible für experimentelles Lernen, wie sie selbst über sich sagt. Erstaunlich fand ich, welch klare Vorstellung sie einem von ihrer Arbeitsweise zu vermitteln verstand, bedenkt man die äußerst begrenzte Gesprächszeit. Welche wesentlichen Punkte betreffs der Arbeitsweise wurden deutlich?
  • Auch die Rütli-Schule ist eine Schule, die sich durch eine Krise gezwungen sah, neu aufzustellen. Ähnlich der Heinrich-von-Stephan-Schule, ähnlich der Paula-Fürst oder der Max-Brauer-Schule aus Hamburg. Durch den Beitritt zur Stiftungsinitiative „Ein Quadratkilometer Bildung“ generierte die Schule für sich frei verfügbare Gelder über einen Zeitraum von zehn Jahren. Was wurde mit dem Geld gemacht? Es wurde v.a. dafür verwendet, um einen kaskadenartigen Drop-down-Prozess der Schulentwicklung ins Leben zu rufen. Zu erst ging die Schulleitung in Wochenendworkshops auf ein Landgut, um von eigenen Stärken und Schwächen ausgehend wünschenswerte Ziele für die Schule zu formulieren, danach begab sich die erweiterte Schulleitung in diesen Prozess, dann die Fachbereiche, dann thematisch orientierte Arbeitsgruppen. Sukzessive von oben nach unten wurde ein Prozess der Selbstverortung, Selbstvergewisserung sowie der Fokussierung in Gang gebracht. Es entstand eine innovative Dynamik, eine Aufbruchsstimmung.
  • Es wird auf lohnende Vernetzung gesetzt, also nicht um jeden Preis. Nur, wenn sich KollegInnen bereit erklären sich für eine Sache einzusetzen, werden Kooperationen verfolgt und versucht zum Erfolg zu bringen.
  • Die Einstellung neuer KollegInnen ist keine einsame Entscheidung der Schulleitung, sondern geschieht im Team. Identifiziert sich der/die neue KollegIn mit der Schulphilosophie, der Art und Weise der Fachbereichsarbeit, will er/sie sich auf gegebenes SchülerInnen-Klientel verantwortungsvoll einlassen, ist er/sie ein Teamplayer? Bevor ein neuer Kollege/in eingestellt wird, muss er/sie hospitieren, um den Alltag zu verstehen und die Herausforderung zu wissen. Durch die gemeinsame Einstellung neuer KollegInnen wird ein Buttom-up-Prozess gesichert, der sich auf den Drop-Down-Prozess bezieht. How smart!
  • Die Vertreterin der Schulleitung lebt eine Angebotskultur. Sie äußert Wünsche und eröffnet begrenzte Zeitfenster. „Ich wünschte mir, dass sie sich ein Jahr lang jede Woche in einer zusätzlichen Stunde in ihrem Jahrgang zusammensetzen, um die Zusammenarbeit zu stärken, gemeinsam planen zu können und bei Problemen nach Lösungen ringen zu können. Geben Sie uns dieses eine Jahr? Gehen Sie mit? Wenn wir/Sie nach einem Jahr feststellen, dass die Maßnahme keinen Gewinn darstellt, dann beenden wir sie.“ Das Kollegium folgte diesem Angebot. Heute hat der Rütli-Campus eine fest verankerte wöchentliche Jahrgangsarbeit in Jahrgangshäusern. Ich persönlich halte diese Teamführung für psychologisch sehr klug, ja, charmant.
Diese Arbeitsweise der Schulleitung sind meines Erachtens auch Bedingung dessen, was ich oben so positiv beschreibe. Womit ich am Ende meines Berichtes angelangt wär. 
Hm, er klingt, als hätte ich paradiesische Zustände vorgefunden. Kritik? Könnte man – wie immer – üben. Ich möchte mich aber auf einen Punkt beschränken, der mich selbst sehr umtreibt. Vielleicht ist er weniger Kritik, denn mehr eine Frage an meine Mentorin.
Hr. L. äußerte, dass die kleine Lerngruppe (15 SchülerInnen) auch daher rühre, dass man einige SchülerInnen per Konsens ins Praxislernen bekommen hat. Diese SchülerInnen sind verwaltungstechnisch noch Campus-Rütli-SchülerInnen, faktisch jedoch anderen Örtlichkeiten zugeordnet. Des Weiteren wurde bei einem Schüler im Gespräch mit allen Beteiligten der Entschluss gefällt, ihn in eine Förderschule zu übergeben, da er dort besser aufgehoben sei. Meine Frage, ab wann bzw. unter welchen Umständen ist Exklusion opportun?



Samstag, 28. Januar 2017

Schülerbeobachtung

Jeder Lehrer und jede Lehrerin kennt sie - SchülerInnen, die einen bis auf´s Blut reizen. Immer und immer wieder. Völlig halt- und ratlos drohen einem dann die eigenen Gesichtszüge zu entgleiten sowie die gebotene Mäßigung abhanden zu kommen. Was tun?
Eine vielversprechende Handlung ist das intensive Beobachten. Was diese Handlung bewirken kann, habe ich in meiner entsprechenden Hausarbeit "Beobachtung eines Augenmerkkindes" reflektiert.

Vorweg zwei gegensätzliche Auszüge aus dem Fazit der Hausarbeit:

  • "Allein wenn ich mir vor Augen führe, wie mein Schüler durch das gezielte Beobachten an Kontur, Schärfe, Stimmig-, Griffig- und Persönlichkeit gewonnen hat! Wie sich mein Verständnis seiner Handlungen von un-sinnig hin zu verstehbar gewandelt hat! Und wenn ich bedenke, wie die Ausgangslage war! So negativ, so ohne Handlungsideen. Ohnmächtig und gereizt. Und jetzt? Das, was ich da in den Händen halte – diese schiere Quantität der Handlungsmöglichkeiten – ist so vielversprechend, so ermutigend, so professionell und befähigend, so lohnend, so schüler- und erfolgsorientiert. Das macht mich insgesamt gesehen sehr zufrieden."

  • "Griffig. Lässt sich Individualität überhaupt greifen? Ist wahre Individualität nicht gerade das, was sich dem Zugriff widersetzt? Im Handeln, gar im Denken? Sichert ein Unterricht nicht gerade dann Individualisierung, wenn er auch Räume des Verborgenen zu-sichert? Wenn er dem Individuum Zufluchtsräume gewährt? Beobachten hingegen heißt v.a. Sichtbarmachen und damit Rationalität und Rationalisierung den Zugang sichern. Sichtbarmachen ist derart die wichtigste Voraussetzung der Normierung. So funktioniert letztlich Scham."

Wer mehr erfahren möchte, der lese HIER.
(Aus Gründen der Anonymisierung ist die Hausarbeit in Teilen geschwärzt. Der Lesbarkeit sowie dem Verständnis tut dies jedoch kein Abbruch.)


Donnerstag, 12. Januar 2017

Paula-Fürst-Schule II

Lernen von den Besten

Am 06.01.2017 hospitierte ich zum zweiten Mal an der Paula-Fürst-Oberschule bei Frau S. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich gerne bei einer anderen Klasse sowie einer anderen Lehrerin hospitiert, da ich glaubte, die Lehrerin in ihrem Stil erfasst zu haben. Ich war gierig nach Neuem, nach substantiell Neuem. Seitens der Seminarleitung wurde meinem Wunsch jedoch nicht entsprochen. So betrat ich die Paula-Fürst-Schule mit einem gewissen Gleichmut.
Doch schon als ich den mir bekannten Raum der JÜL-Klasse betrat, wurde ich überrascht. Ich notierte mir: „Raum wirkt nicht mehr erschlagend, sondern völlig anders. Klarer, offener, übersichtlicher.“ Der Klassenraum drohte zwar immer noch wegen der überbordernden Fülle an Lernmaterial aus allen Nähten zu platzen, aber ich schien mich nach den 90 Minuten meiner letzten Hospitation daran gewöhnt zu haben. Hier konnte ich mir auf einmal sehr gut das vorstellen, was mir im November noch völlig ausgeschlossen schien, nämlich hier sowohl zu unterrichten als auch zu lernen. Einmal mehr blitzte in mir der Gedanke auf, dass Zeit vielleicht die wirksamste aller Stellschrauben im Schulkontext darstellt
Wie auch beim letzten Mal trudelten die SchülerInnen nach und nach ein, wurden von der Lehrerin individuell begrüßt und begannen selbstständig den Tagesablauf in ihr Logbuch zu schreiben. Doch was war das? Wer kam nahm eine walnussgroße Holzkugel und steckte sie auf einen Holzstab. Was für eine wunderbare Idee! Die Lehrerin erhält einen schnellen Überblick darüber, wie viele Kinder (ungefähr) schon da sind und – meines Erachtens noch wichtiger – die Kinder verankern sich regelrecht durch eine haptisch-materiell ansprechende Aktivität, kommen hier ganz an und machen sich für die Lehrerin und ihre MitschülerInnen doppelt sichtbar. Schau(t) her, ich bin schon da! Hier, an unserer, an meiner Schule! Ich habe soeben meine erste Spur hinterlassen.
In der 80minütigen Doppelstunde (die Rhythmisierung an dieser Schule ist bewusst kein klassischer 90-Minuten-Rhythmus) arbeiteten die SchülerInnen an ihren Projektheften. Hierzu muss man wissen, dass die Paula-Fürst-Schule mehrere Projekte und projektorientierte Unterrichtsphasen pro Jahr durchführt. Im aktuellen KuMuLi-Projektunterricht (Kunst-Musik-Literatur) steht Picasso im Zentrum. Und zwar für die gesamte Schule. Thema der Hospitationsstunden war: „Picasso und Mathematik“. Die Lehrerin fragte: Welche mathematischen Fragen könnte man zu Picasso entwerfen? Die Antworten zeigten das ganze beeindruckende (Vor)wissen dieser kleinen, z.T. noch verschlafenen Wesen: „Wie viele Frauen hatte Picasso?“ (Damit hatte man sich schon in einer der vorherigen Stunden beschäftigt). Der nächste kleine Finger schnellte hoch: „Wie viele Bilder hat Picasso gemalt und was kostete das teuerste seiner Bilder?“ Die Fragen glichen sich bis auf die Gegenstände, weshalb Frau S. die SchülerInnen aufforderte, sich die verschiedenen Wörter anzuschauen, die sie in Deutsch zu Picasso notiert hatten und die vorne auf einem Plakat an der Tafel hingen (Fächerübergreifendes, vernetztes Denken! Echte Chance auf Vertiefung, Verstehen, Merken, Erfolg). Neuer Impuls: Was könnte man errechnen? Wie lange er lebte. Einnahmen der drei teuersten Bilder. Usw. usf. Dann gingen die SchülerInnen in Trainer-Sportler-Paarungen (siehe letzte Hospitation) an die Arbeit mit ihren Projektheften. Als ich mir eins der Projekthefte genauer ansah, begann sich der Schwerpunkt meines Hospitationsberichtes herauszukristallisieren. Material. Dieser an Material übervolle Raum, diese mit so viel Liebe, Mühe und Weitblick konzipierten Projekthefte. Material und (guter) Unterricht. Diese Kombination weckte mein Interesse sowie das Bedürfnis, sie näher zu reflektieren. Was habe ich für mich entdecken können?

Material und Vielfalt
Eine Pädagogik der Verschwendung. Ressourcen im Überfluss. Im Raum dieser JÜL-Gruppe findet es sich durch eine einzige Lehrerin auf der Materialebene umgesetzt. Nicht durch Senatsvorgaben. Nicht durch Bevorteilung seitens der Schulleitung. Nicht durch persönlichen Sammelzwang. Und auch nicht durch reine Zufälligkeit. Diese Lehrerin hat es v.a. aus pädagogischer Überzeugung heraus getan. Sie ist Anhängerin, aber keine Verfechterin der Montessori-Pädagogik. Material als Schlüssel zur Freiarbeit. Material und Umgebung auf das Kind hin orientiert, beide mit Aufforderungscharakter zum möglichst selbstständigen Lernen. Dazu muss das Material vielfältig sein. Haptisch, sinnlich, direkt, abstrakt, formbar, experimentell, nachprüfbar, schüttelbar, rüttelbar, federleicht, bleischwer, kristallin, eckig, rund, weich, hart, sandig, leuchtend. Dagegen die Standardmaterialien gewöhnlichen Schulalltags: Arbeitsblatt. Buch. Gelegentlich PC und Smartboard. Welch Wüste der Erfahrungsmöglichkeiten!

Material und Wertschätzung
  • Ferientagebücher: Jedes Kind hat von Frau S. ein kleines quadratisches Heftchen bekommen. Die Hefte sind von Außen betrachtet bunt. Warme Farben fließen ineinander über. In schwarzer, kalligrafisch wirkender Schrift hat die Lehrerin auf jedes Heft eigenhändig „Ferientagebuch von (Name des Kindes)“ geschrieben. Die Hefte haben etwas Künstlerisches an sich. Sie wirken wie eine kleine Kostbarkeit, die dem jeweiligen Kind symbolisiert: Du bist es mir wert. Die SchülerInnen bekommen diese Kostbarkeit geschenkt. Und sie zahlen der Lehrerin die entgegengebrachte Wertschätzung 1:1 zurück. In den Heftchen finden sich wirkliche Einblicke in ihr Leben, in das was sie mit Mama und Papa oder ihren Geschwistern in den Ferien gemacht haben („Wir waren mit dem Hund im Wald und haben Stöcker gesammelt und Blätter auch.“ Aha, dieses Kind hat einen Hund. Und seine Eltern gehen mit ihm in den Wald. Nehmen sich also Zeit und vermitteln eine gewisse Wertigkeit der Natur). Verziert sind diese Einträge oftmals mit geradezu rührenden Zeichnungen der Sechs- bis Achtjährigen. Kinder, die in den Ferien an Schule denken! Kinder, die in den Ferien das Schreiben-üben nicht vergessen. Welche Leistung der Lehrerin! Und nach den Ferien? Da werden die SchülerInnen angehalten, ihre Ferientagebücher einem anderen Kind vorzustellen. Dann trifft man sich im Kreis und jedes Kind stellt vor, was sein/e Partner/in in den Ferien alles erlebt hat. Zuhören lernen, Präsentieren lernen, Wertschätzen lernen. Die Arbeit, die Frau S. in diese kleinen Heftchen steckt, sie wird gleich mehrfach honoriert. 
  • Ausrangiertes: Was tun mit Material, dass man nicht mehr benötigt? SchülerInnen schenken? Warum eigentlich nicht?! Frau S. hat genau das in der Hospitationsstunde getan. Das Leuchten in den Augen der Kinder, einfach schön! Geschenkt? Für mich? Ohne Gegenleistung? Diese scheinbare Großzügigkeit, hinter der so viel echte Achtsamkeit steht. Bedacht, mitgedacht, gesehen, geachtet. Achtsamkeit, welch schönes Wort im Kontext der Schule. 
  • Bücher: Picasso. Im Raum hingen nicht nur Bilder und Fotos von und zu Picasso, auch hatte die Lehrerin Unmengen von Kunstbüchern zu Picasso. Woher hat sie nur so viel Material? Die Bücher stammten aus der Bibliothek. Frau S. hielt jedes Buch wie ein Kostbarkeit hoch, erklärte, was es darstellte, dass man es sich natürlich anschauen dürfe, dann aber sorgfältig in die dafür bereit gestellte Kiste zurücklegen möge. Wertschätzung von Büchern! Das mag fast schon antiquiert wirken, ist in Zeiten medialer Flüchtigkeit vielleicht aber viel notwendiger als gedacht. 

Material und Hilfestellung 
  • Lernplakate und Hilfsschilder: Wie schon in meinem letzten Hospitationsbericht geschrieben, hängen überall im Raum Lernplakate und Hilfsschilder. Doch diesmal wurde mir bewusst, dass ein Teil der Lernplakate von den SchülerInnen selbst im Kontext anderer Stunden gestaltet worden war. Fächer-ineinandergreifendes Hilfsmaterial (Die Ergebnisse des Deutschunterrichts als Grundlage des Projektunterrichts). Letztlich also eine Hilfestellung, die auf vernetztes und vertiefendes Denken setzt
  • Zettel: Differenzieren bei so vielen SchülerInnen? Unmöglich! Keine Frage, Differenzierung ist eine der großen Herausforderungen in Schule. Aber manchmal ist sie so simpel! Um einigen SchülerInnen die Startphase in ihre Arbeit mit dem Projektheft zu vereinfachen, legte Frau S. kleine Zettel auf manche Tische, auf denen eine erste Lösung (eine erste mathematische Frage zu Picasso) stand. Die Zettel waren schlicht, der Text mit Kugelschreiber notiert. Die entsprechenden SchülerInnen konnten diese Lösung erst einmal abschreiben. Danach waren sie aufgefordert eigenen Lösungen zu notieren. Pro Zettel hatte die Lehrerin vielleicht zehn Sekunden investiert. Der Nutzen deutlich sichtbar: alle SchülerInnen waren sofort aktiv und motiviert bei der Sache. Die Aussicht auf Erfolg – sie war gegeben. Die Lehrerin selbst schien stark entlastet
Material und Teamarbeit
  • Projektheft-Erstellung: Die Projekthefte zu Picasso waren im A5-Format, mit einem Umschlag versehen und von Außen durch die SchülerInnen gestaltet worden. Als ich die Hefte durchblätterte, notierte ich mir: „Schule scheint für ihre SchülerInnen viel Material selbst herzustellen/ zu entwerfen und zu drucken. Finanzierung? Erfragen.“ Im an die Hospitationsstunde anschließenden Gespräch erzählte mir Frau S., dass sie derartige Hefte selbst entwirft und per Kopierer drucken und Klammern lässt. Das aktuelle Heft ist jedoch ein Kooperationsprodukt. Frau S. betreut nämlich eine Praktikantin und hat sie in die Projekthefterstellung einbezogen. Man könnte sagen, sie hat die sich bietenden Ressourcen (motivierte Praktikantin mit Zeit) klug genutzt. Die Praktikantin hat viel über Picasso recherchiert und u.a. einen Text über seine Frauen sowie über seine verschiedenen Farbphasen verfasst. Frau S. hat diesen dann didaktisch reduziert und mit entsprechenden Aufgaben versehen. Differenzieren bei so vielen SchülerInnen? Unmöglich! Als Teamplayer vielleicht nicht.
Material und Anreiz
  • Aufgabentypen: Was mich an den Projektheften fasziniert hat, waren die vielfältigen, fächerübergreifenden und oftmals sehr offenen Aufgabentypen. Es handelt sich, wie ich erfuhr, um sogenannte AEIOU-Aufgaben, d.h. kognitiv aktivierende Aufgaben, die auf Annemarie von der Groeben zurückgehen. A steht für Argumentieren, E steht für Erkunden, I steht für das Imaginieren, O für das Ordnen und U für das Urteilen. Bei solcherlei Aufgabentypen ist es übrigens nicht verwunderlich, dass an dieser Schule sowohl 1.-3.Klässler als auch 10.Klässler sowie SchülerInnen mit und ohne Förderstatus mit den gleichen Heften arbeiten. Nicht das Heft macht hier die Differenzierung, sondern die Offenheit der Aufgabenstellung schafft Platz für differenzierte Ergebnisse, d.h. Ergebnisse mit hohem inidividuellen Zuschnitt. Differenzieren bei so vielen SchülerInnen? Unmöglich! Mit Hilfe von AEIOU-Aufgaben vielleicht weniger.
Abschließendes.
Aus meinen bisherigen Hospitationserfahrungen kann ich Folgendes schlussfolgern: 
  1. Hospitation ist einer der Schlüssel für eine erfolgreiche Schulentwicklung, denn der Input an machbar Innovativem ist hoch und motivierend.
  2. An guten Schulen, bei herausragenden LehrerInnen, lohnt sich ein mehrfaches Hospitieren bei ähnlichem Setting. Das eigenen Verständnis für´s Neue schärft sich. 
  3. Ein Nachgespräch zur Hospitation steigert den Gewinn einer Hospitation um ein Vielfaches. Unklarheiten können beseitigt, Detailfragen erörtert, Angedachtes gemeinsam weitergedacht werden. Und nicht zuletzt, es kommen hierbei neue, trächtige Fragen auf. 
Eine dieser trächtigen Fragen stellte sich mir. Im Auseinandersetzen mit dem Schulgeschehen an der Paula-Fürst-Oberschule wurde mir klar, wie toll es sein muss, wenn man konzeptionell von der Grundschule über die Sek I bis hin zur Sek II denken kann. Welchen Gewinn es für die SchülerInnen bedeuten muss, wenn auf die in der Grundstufe erlangten Kompetenzen in der Sek I auch zurückgegriffen und von hier aus weitergedacht wird. Ich bedauerte sehr, dass meine Schule nur die 7.-10. Klasse umfasst. Und dann, eine kleine Initialzündung! Was ist eigentlich mit unserer Kooperationsschule? Wir haben doch eine?! Wie hieß sie nochmal? Ich notierte mir: „Diese Kooperation muss mit Leben erfüllt werden! Wir LehrerInnen müssen einander begegnen, uns austauschen, uns gemeinsam aufeinander abstimmen.“ 
Ja, das klingt gut!