Freitag, 21. Februar 2020

Meine Familie wird zerbombt!

Am Montag war ich in dem Stück "Common Ground" im GORKI-Theater (Rezension TagesspiegelTAZ). Es ging um den Balkan-Krieg in den 90iger Jahren, dem brutalen Auseinanderbrechen Jugoslawiens. Das in meinen Augen Interessante an diesem Stück, fünf der sieben Schauspieler*innen sind gebürtige Jugoslawiens*innen. Sie ergründen ihre gemeinsame Basis, teilen ihre Erinnerungen, Ängste, ihr Verlorensein und ihr Ringen um Identität sich und dem Publikum mit. 
Für mich die Szene des Abends, weil sie bei mir am aller tiefsten ging, war der Auftritt von Alexandar Radenkovic´. In einem Monolog richtet er sich ans Publikum. Die Situation, er lebt als Kind/Jugendlicher in Deutschland, während die NATO seine Heimat bombardiert. Seine Familie ist noch dort. Mit folgenden Worten versucht er seine damalige Situation zu fassen:

Ich gehe jeden Abend in Clubs. - Meine Familie wird zerbombt. (...)
Ich bin ein Fashionvictim. - Meine Familie wird zerbombt. 
Abibuch 1999 - Mr. Oberflächlich. - Meine Familie wird zerbombt. 
Die Telefonverbindung ist abgebrochen. Das Leben langweilt mich. - Meine Familie wird zerbombt. 
Ich weiß nicht, was ich studieren soll. - Meine Familie wird zerbombt. 
Ich schmeiße mein Geld zum Fenster raus. - Meine Familie wird zerbombt. 
Ich mache mir Sorgen um meine Haare. - Meine Familie wird zerbombt.

*(Der vollständigen Monolog findet sich am Ende des Beitrages. Vielen Dank ans Gorki.)


Dieser Monolog geht gefühlt mehrere Minuten und zeigt, dass - obwohl Alexandar in Sicherheit ist - ein Leben in Normalität nicht möglich ist. 
Die Angst um die eigene Familie erdrückt schlichtweg den Alltag. 
Die Angst um die eigene Familie macht in ihrer Dominanz Alles zu Einem.
Die Angst um die eigene Familie biete in Nichts einen Halt.
Sie macht aus lebhaftem Bunt pures, allmächtiges Grau.
Es ist das Boden-lose, das Halt-lose, das Rast-lose, das Rat-lose, was hier einen jungen Menschen existentiell bedroht. Alexandar Radenkovic´spielt es eindringlich, im Nachgang mit all der Wut, die ertragene Ohnmacht noch Jahre später ihren Opfern lässt.

Ich erinnere mich, dass ich während dieser Szene an drei meiner Schüler*innen dachte. Sie sind  sog. "Willkommensschüler*innen", Geflüchtete. Das Mädchen unter ihnen entwickelt sich herausragend, ist kaum zwei Jahre in Deutschland, spricht jedoch in einer Qualität, die den meisten meiner Schüler*innen mit Migrationshintergrund voraus ist. Sie ist interessiert, lebhaft, nachdenklich. 
Die beiden Jungs sind jeder auf seine ganz spezielle Art in sich gekehrt, defensiv, irgendwie phlegmatisch, scheinbar ziellos. Sie machen sprachlich kaum Fortschritte, sehen schulisch kein Land. Ich höre mich ihnen gegenüber Sätze sagen, wie: "Komm schon, fang endlich an." oder: "..., was ist los? Alle anderen lesen schon." oder auch: "..., Du musst auch wollen, wenn Du noch nicht einmal anfängst zu lesen, dann kann ich Dir auch nicht behilflich sein." Ich halte mich für keinen unmenschlichen, keinen unempathischen Lehrer, aber kann es sein, dass diese Sätze vor dem Lebenskontext dieser Schüler absolut keinen Sinn machen? Kann es sein, dass sie die Haltlosigkeit beider Jungs gar verstärken? Kann ich derart für diese beiden Jungs ein guter Lehrer sein? 
Nach dem Stück "Common Ground" habe ich mir vorgenommen, meinen Schüler*innen wieder vermehrt andere Fragen zu stellen, wenn ich sehe, dass sie unmotiviert, leer und kaputt vor einem Arbeitsauftrag sitzen. Ich möchte sie fragen, wie es ihnen geht? Was ihnen fehlt, um aktiv zu sein? Worum sich ihre Gedanken drehen? Ob sie etwas belastet? Ich möchte wieder verstärkt das in den Vordergrund stellen, worüber ich hier in diesem Blog auch schon des öfteren Geschrieben habe: die Bedürfnisse meiner Schüler*innen. In welchem Bedürfnissetting ist jede/r angehalten, schulische Aufgaben zu bewältigen? Das zu eruieren muss ein Hauptbestandteil meiner Arbeit sein. Danach muss sich mein Angebot an Unterstützung richten. Aber woher die Zeit nehmen? Von wo immer auch möglich. 
Kann ich noch etwas für diese Schüler*innen tun? Ich denke ja. Wenn Kummer zu Isolation und Ziellosigkeit führt, dann gilt es hier - aufgrund eigener Begrenztheit - die Symptome anzugehen. Diese Schüler*innen müssen aus der Isolation raus und Zielen entgegensehen können. Konkret könnte man in der Klasse mit ihnen und den anderen Schüler*innen nach geeigneten Lernpaten(schaften)/ Tandempartner*innen suchen. Man sollte, denke ich, jegliche Interessensbekundungen, Hobbys, Neigungen, Wortbeiträge sensibel registrieren und sich überlegen, wie man das, was sich da zeigt, sinnvoll verstärken, bekräftigen, wiederholen, modifizieren und kanalisieren könnte. Interesse an Musik? Warum kein Instrument beibringen (AG, Musikunterricht)? Und es spräche auch nichts dagegen, einem Willkommensschüler, der davon träumt NBA-Star zu werden, eine Basektballzeitschrift mitzubringen, ihm bei der Suche nach einem Verein zu helfen oder Basketball im Unterricht zu thematisieren. Weiterhin wäre es meines Erachtens hilfreich, schulisch gängige Perspektiven zu relativieren. Erneut müssten wir Lehrer*innen für unsere Schüler*innen Zeit neu denken (siehe "Zeit muss sein"). Konkret hieße das, für jemanden, der erst seit zwei, drei Jahren Deutsch lernt und sich damit schwer tut, die Zeitspanne bis zu einem gewissen Schulabschluss zu verlängern. Natürlich können wir das nur, indem wir über die 10. Klasse hinausdenken und die Vorzüge unseres Bildungssystems nutzen. MSA/ eBBr? Warum nicht am OSZ machen und derart Zeit gewinnen? BBR? Warum nicht über IBA am OSZ anpeilen und damit Zeit gewinnen?
Wenn WIR nach Syrien, in den Libanon oder nach Afghanistan gehen müssten. Wenn WIR dort nach zwei bis drei Jahren Arabisch bzw. Persisch einen Abschluss machen müssten. Wie sähe der realistischer Weise aus? Was würden WIR uns womöglich wünschen? Zeit? Empathie? Unterstützung? Wie viel davon bekommen unsere Willkommensschüler*innen? Das sollten wir uns täglich fragen.

PS: Nach dem Theaterbesuch poppte ein zweiter Gedanke in Form einer Frage auf. Woraus würden Schüler*innen womöglich mehr lernen? Aus dem Theaterbesuch zum Stück "Common Ground" oder aus fünf Arbeitsblättern zum Thema Jugoslawienkrieg? Ich habe nach dem Stück kurz in mein Herz geschaut und für mich eine klare Antwort gefunden...


*
ALEKS 
"Hatten Sie jemals das Bedürfnis, dass man Ihnen so richtig brutal ins Gesicht schlägt. Ich meine, dass man Ihnen so richtig brutal gegen den Schädel tritt. Den Geschmack des Blutes in Ihrem Mund schmecken, zu spüren wie Ihre Augen anschwellen. 
Hatten Sie jemals schon richtige Angst? Ich meine richtige Angst. Ich meine nicht so eine oh Gott ich hab mein iPhone fallen gelassen ich hoffe es geht noch  Angst. Ich meine so ne Angst, wenn du dir in die Hosen scheißt, weil du Angst hast, dass du wirklich stirbst. Ich hab das.
Wollt Ihr nicht der gezähmten Perserkatze zu der wir hier alle geworden sind die Fresse einschlagen?
Ein Mann, der super funktioniert, supergeil, immer diplomatisch ist, nie gemein, immer verständnisvoll, der seiner Frau zuhört und mit ihr einkaufen geht, der abwäscht und selbstreflektiert ist und sich nicht schämt zu weinen, der eine Therapie macht, wenn's nötig ist, der sich einen Bart wachsen lässt, damit er das siebenjährige Kind dahinter verstecken kann, das er in Wirklichkeit ist. Das ich bin. Das Kind, dem immer gesagt wurde, dass es nicht zu laut sein soll, dass es keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll, dass es sich anpassen soll. Das Kind, das sich so sehr für seinen Vater aus dem Balkan geschämt hat, weil seine Balkan-Manieren zu ruppig waren, weil sich seine Stimme immer zu laut angehört hat. Das Kind, das so getan hat, als ob der Mann, der neben ihm ging und diesen starken Akzent hatte, ein Fremder ist.
Ich war nicht da in den 90ern. Ich war in Sicherheit. Ich war in Deutschland. Ich bin zur Schule gegangen. Ich bin in Urlaub gefahren. Nach Serbien. Ich saß an der Donau und habe Cola getrunken. 38,4 Kilometer weiter sind Menschen gestorben. Meine Eltern wollten mich vor dem ganzen Horror beschützen. Sie wollten, dass ich ein normales Leben habe. Obwohl nichts mehr normal war. 
Ich sehe mich 1999. Ich bin in Berlin. Bin 19 Jahre alt. Mein Vater, meine Tanten und Cousins, meine Oma und mein Opa sind unten. Sie werden von der Nato gebombt. Sie leben in ihrem Keller. Sie haben Angst. Ich bin gerade 19 geworden. 
Ich arbeite als Stuart bei der Lufthansa. Ich fliege durch die ganze Welt. Meine Familie wird zerbombt. 
Ich bin in Südafrika und gehe auf Safari. Meine Familie wird zerbombt. 
Ich gehe jeden Abend in Clubs. Meine Familie wird zerbombt. 
Ich bin besoffen. So bewusstlos besoffen, dass ich in Athen von einem Fels 5 Meter tief ins Meer stürze. Ich bin nicht verletzt. Die Stewardessen kümmern sich um mich. Meine Familie wird zerbombt. 
Ich bin ein Fashionvictim. Meine Familie wird zerbombt. 
Abibuch 1999 - Mr. Oberflächlich. Meine Familie wird zerbombt. 
Die Telefonverbindung ist abgebrochen. Das Leben langweilt mich. Meine Familie wird zerbombt. 
Ich weiß nicht, was ich studieren soll. Meine Familie wird zerbombt. 
Ich schmeiße mein Geld zum Fenster raus. Meine Familie wird zerbombt. 
Ich mache mir Sorgen um meine Haare. Meine Familie wird zerbombt."