Mittwoch, 31. Mai 2017

Rütli Campus II

Lernen von den Besten

Am 19.05.2017 hospitierte ich erneut in der 10. Klasse von Frau S. und Herrn L., 3./4. Stunde, Deutsch. Auch dieses Mal war die Doppelstunde äußerst smart konzipiert. All die positiven Dinge (schülernahes Thema, hohe Relevanz, fächerübergreifender Ansatz, schnelle Aktivierung, Ermöglichen von Erfolg, Spiel mit der Sprache, Kompetenzorientierung, Effizienz, Vorbildwirken, Selbstreflexion) die ich in meinem letzten Bericht erwähnt habe, trafen wiederholt zu. Es scheint, als seien sie Teil eines sehr gut verstanden Handwerks.
Um mich in dem vorliegenden Bericht nicht zu wiederholen, habe ich beschlossen, mich vom Unterrichtsgeschehen zu lösen und den Fokus noch stärker auf Herrn L. zu legen, der in dem Dreier-Team (Lesepatin, zweite Fachlehrerin Frau S., er) die offensichtlich führende Person ist. Ich möchte einen etwas genaueren Blick auf diejenigen seiner „Techniken“ legen, die den Unterricht meines Erachtens sehr positiv beeinflussen.
Des Weiteren möchte ich mich erneut zur Schulentwicklungsarbeit am Rütli-Campus äußern. Basis hierfür bildet das sich an den Unterricht anschließende Gespräch, in dem sich Herr L. Zeit für unsere Fragen nahm.

Zu 1. „Techniken“ des Herrn L.

„Okay. Und nun mal eine ehrliche Antwort! Was denkt Ihr wirklich.“

Gefragt hatte Herr L. wie die SchülerInnen das Schulfest fanden. Ein Schüler war zu Wort gekommen. Seine Antwort war brav, erinnerte ein wenig an die Floskeln von Fußballprofis, die niemandem wehtun wollen, aber auch keinen berühren. Nach dem Impuls des Lehrers schnellten plötzlich mehrere Arme hoch, offensichtlich hatte er einen Nerv getroffen. Der Subtext seines Impulses war: Ich will wissen, wie es wirklich in Euch aussieht. Das nehme ich ernst, das hat Wert! Schüler ernst nehmen, Meinungen aushalten, die politisch nicht korrekt, manchmal sogar recht grob sind - wie fruchtbar kann das sein! Ich als Gast jedenfalls erhielt wichtige Hinweise darauf, was an dem Fest unrund lief, wo man in Zukunft also mit den SchülerInnen gemeinsam ansetzen könnte.


In eine ähnliche Richtung weist auch folgender Dialogausschnitt, der sich später in der Stunde zutrug.

L.: „Ist das okay für Dich?“
S.: „Alles was sie wollen!“
L.: „Wow, was für eine Antwort!“ 
- seine Stimme zeichnet eine gehobene Augenbraue nach -
„Es lebe die Demokratie!“

Auch hier ein deutliches Signal an die SchülerInnen: Seid kritisch! Seid selbstbestimmt! Redet niemandem nach dem Munde! Bildet Euch Eure eigene Meinung! Werdet mündig! Steht zu Euch! Das hat Wert!
Man fühlt sich an Kant und den Leitspruch der Aufklärung erinnert. Erziehung zur Demokratie (wenn es so etwas gibt), Erziehung mündiger Bürger - hier findet es seinen Platz. Nicht extrahiert im Fach Ethik, sondern eingebunden in die alltägliche Beziehungsarbeit mit den SchülerInnen.


Mündigkeit. Dieses Thema zieht sich durch den Unterricht wie ein roter Faden.

„Was könnte jetzt Eure Aufgabe sein?“

Immer wieder stellt Herr L. den SchülerInnen die Frage, welcher Arbeitsschritt jetzt sinnvoller Weise folgen könnte. Er zwingt sie aus ihrer in Schule so gewohnten Rolle des Unterrichtskonsumenten herauszutreten, mitzudenken und dem eigenen Handeln Sinn zu geben. Er stellt die Sinnfrage bzw. die Sinn stiftende Frage. Das aktiviert die SchülerInnen. Sie nehmen die Herausforderung an. Natürlich ist es so, dass sie z.T. auch gewohnt sind zu antizipieren, welcher Schritt jetzt tradierter Weise sinnvoll wäre. Das Material von Herrn L. liegt ja schon griffbereit zur Hand, die Flexibilität dadurch von Vornherein begrenzt. Ganz so frei sind sie im Folgen ihres eigenen Sinns also nicht. Aber, Herr L. ist hier viel weiter als viele andere LehrerInnen Berlins, deren Unterricht sich zu großen Teilen - methodisch durchaus innovativ - regelrecht über die SchülerInnen ergießen.


Erdogan besuchen.

Dieser Wunsch findet sich neben anderen Wünschen zur Wandertagsgestaltung auf einem großen Plakat im Klassenzimmer. Er hat hier seinen Platz. Ich kenne die Geschichte um diesen Satz herum nicht, aber ich bin mir sicher, dass Herr L. ihn ohne moralischen Zeigefinger schwingend hat notieren lassen. Ganz dem Motto: Eure Meinung ist wichtig! Steht zu dem was ihr fühlt! Habt Mut Euch zu äußern! Macht Euch stark für Eure Wünsche, Eure Gefühle! Das hat Wert! Ihr habt Wert!

Ihr habt Wert! Qua dessen, dass ihr seid! Qua dessen, dass ihr Euer Sosein in die Welt tragt, sie bunt werden lasst! Und nicht, weil ihr genügt, weil ihr gehorcht, weil ihr funktioniert, weil ihr erfüllt, weil ihr leistet. (Wie spürbar die Diskrepanz zwischen geschriebenem Wort und gewöhnlichem Schulalltag!)
Wir sollten mit SchülerInnen wertschätzend umgehen. Okay. Fragen wir aber auch nach ihren Werten? Nach den Dingen, die ihnen wichtig sind? Nach dem Wert unserer Unterrichtsinhalte für sie (nicht für ihren Abschluss oder curriculare Vorgaben)? Wie oft fragen wir uns, ob unsere Be-Wertung auch wert-schätzend ist? Wie oft gehen wir mit uns hart ins Gericht, wenn unser Verhalten ent-wertend war?


Herr L. möchte ein Feedback. Er nimmt fast jeden blitzlichtartig dran. Zeit, ca. 2 Minuten.

Von der aktivierenden Funktion dieser Lehrerhandlung, was könnte sie darüber hinaus bewirken?
Ich glaube, dass sie dazu führt, dass sich die SchülerInnen erneut gesehen fühlen. Oftmals wird ein Feedback erwünscht, nach zwei, drei Meldungen aber ist der/die Lehrer/in zufrieden und es geht weiter im engen Rhythmus der Schule. Aber was ist das für ein Feedback, was sich nach zwei, drei Meldungen erschöpft? Ist das nicht so, als ob wir auf dem Elternabend ein Feedback einholen und sich nur die Elternvertreter zu Wort melden würden? Was ist mit den womöglich Müden, den Frustrierten, den Träumern, den Kreativen, den Desinteressierten, den Überforderten, den Unterforderten, den kulturell Barriere-ten, den Lustlosen, den Schlafmützen, den Nörglern, den …, die alle nicht zu Wort gekommen sind? Lebt ein Feedback von Vielfalt? Lebt Unterricht von Feedback? Lebt Unterricht von einem vielfältige Feedback? Laut HATTIE JA!


Herr L. zählt laut, wie viele sich melden.
Herr L. führt Redelisten: „Erst Manja, dann Ali, dann Max, dann Zeynep!“ (Namen geändert).

Ein großer Nachteil von Frontalphasen im Unterricht ist, dass auf eine Frage stets auch nur ein Person zur gleichen Zeit antworten kann (Das ist bei der Fishbowl-Methode ganz anders). Eine/r von X. Eine/r von bspw. 24. 1/24! 4 Prozent. Wow, wie frustrierend! Als SchülerIn ist die Chance sich äußern zu dürfen, also extrem gering. Macht melden da noch Sinn?
Herr L. federt diesen widrigen Umstand ab. Erst zählt er laut, wie viele sich melden, um derart so viele SchülerInnen wie möglich zu einer mündlichen Äußerung zu bewegen. Dann belohnt er ihr Melden durch eine Sicherstellung des Dran-genommen-werdens. Derart bleiben die Schülerinnen, die sich gemeldet haben auch beim Geschehen, verfolgen das Unterrichtsgespräch. Die Redeliste lässt aus 4 Prozent Wahrscheinlichkeit 100 Prozent Sicherheit werden. Macht melden unter diesen Umständen Sinn? Keine Frage, das tut´s!


„Ihr habt Eure Meinung kund getan. Aber, anhand welcher Beispiele könnt ihr diese Meinung belegen? Nennt Beispiele!“
„Passt deine Antwort zu dem, was SchülerIn X gerade gesagt hat?“

Zwei Impulse. Ein Anliegen. Hin zum nächsthöheren Anforderungsbereich!
Es war schön zu sehen, wie Herr L. immer wieder seine SchülerInnen dazu auffordert, sich nicht in Ein-Wort-Antworten zu erschöpfen. Im Gegenteil, er fordert sie heraus. Vertiefung, Transfer, Verknüpfungen, In-Bezug-Stellen, Begründen, usw.


Ein paar rote Linien auf dem ganz normalen Arbeitsblatt.

Inklusion unter diesen Umständen - niemals! Differenziertes Arbeitsmaterial - wann soll ich das noch schaffen! Herr L. arbeitet unter diesen Umständen. Er macht das inklusiv. Differenziert hat er auch. Mittels ein paar roter Linien. Geschätzter Arbeitsaufwand hierfür ungefähr zehn Minuten. Rote Linien als Orientierungshilfe, als Arbeitserleichterung, als Textreduzierung, als eingebaute Erfolgsaussicht für die SchülerInnen mit Status Lernen (Warum schreibe ich den Status auf. Spielt er eine Rolle?).


Auf den Tischen liegen Briefumschläge A4.

In den Briefumschlägen liegt das Material für die SchülerInnen. Sicherlich dienen Herrn L. die Briefumschläge auch dafür, bei Gruppenarbeit Herr über das vielfältige Material zu sein (Ordnungsfunktion). Weit interessanter finde ich aber den angenommenen psychologischen Wert. Briefumschläge suggerieren eine Adressaten-Gerichtetheit. Ups, ein Briefumschlag. Für mich? ich will es nicht überbewerten, aber auf mich haben derlei Umschläge unterschwellig motivierenden, ansprechenden Charakter.


„Immer begründen. KOMMA WEIL. Immer begründen!“

Wahrscheinlich können die SchülerInnen von Herrn L. diesen Satz schon singen. Schön für sie, denn in den Prüfungen oder bei Bewerbungsschreiben werden Ihnen derlei verinnerlichte Merksätze sicherlich dienlich sein. Gleiches gilt für:


„Warme Dusche, kalte Dusche“.

Diese Sprachbilder stehen für das Feedback geben. Warme Dusche, kalte Dusche meint erst das Positive, dann das zu Verbessernde nennen. Sprachbilder dienen hier also als Trigger, als Codes für Handlungsabfolgen. Das ist lernpsychologisch gesehen bestimmt sehr effizient.


„Yallah. Hm, wie das geschrieben wird? Schau mal nach, ob das im Duden steht.“

Verknüpfung der Lebens- und Sprachwelt mit Lern-/ Kulturtechniken. Auch hier ist der Schüler oder die Schülerin wertgeschätzter Ausgangspunkt seines/ ihres Lernens.


Die für mich interessanteste Technik zum Schluss. Sie scheint mir psychologisch äußerst klug.
Herr L. beendet die Stunde mit einem Lob an die gesamte Klasse, dann wird noch etwas differenzierter gelobt. Den SchülerInnen bekommt das gut, das ist zu spüren. Das Interessante daran, die Stunden ist noch gar nicht zu Ende. Im Anschluss an das Lob stellt Herr L. noch eine inhaltliche Frage. In ihr mündet sein Unterricht. Es fühlt sich an, als ob die gesamten Doppelstunde nur auf diese Frage hin ausgerichtet war. Die Stunde erreicht von der Stundenprogression her ihre höchste Stufe. Die SchülerInnen werden aufgefordert einen Transfer zu bilden. Mit dem Lob im Rücken schnellen mehrere Finger empor. Fantastisch.


So viel zu den Techniken und Kniffen von Herrn L.
Partizipation, Transparenz, Wertschätzung, Feedbackkultur. All das findet sich hier wieder. Wohltemperiert, maßvoll, umsichtig, zielfokussiert. Erneut muss ich an HATTIE denken. Auf den Lehrer kommt es an! Wie Recht er doch hat...



Zu 2. Schulentwicklung am Campus Rütli

Schon in meinem ersten Bericht bin ich auf die Schulentwicklungsarbeit an der Rütli eingegangen. Im an die Doppelstunde Deutsch anschließenden Gespräch mit Herrn L. war sie erneut Thema. Folgende Dinge finde ich erwähnenswert:

  1. Pilotprojekte - Herr L. berichtete darüber, dass mehrere KollegInnen seiner Schule sich für die Abschaffung von Noten interessieren. Zwei von ihnen dürfen nun in einem Pilotprojekt ihre Ideen notenfreien Lernens umsetzen. Als Pioniere sammeln sie Erfahrungen und lassen diese über eine Evaluation ins Gesamtkollegium einfließen, das dann zu einem späteren Zeitpunkt darüber diskutiert, ob die ganze Schule sich in diese Richtung aufmachen sollte. Diese Praxis finde ich derart anregend, dass ich am liebsten gleich an diese Schule wechseln möchte.
  2. Evaluation - Dieses Verfahren scheint an der Rütli zur Arbeitskultur dazuzugehören. Herr L. erzählte u.a., dass der Fachbereich GW die Arbeit mit den Kompetenzrasterheften - die im Fachbereich als Team erarbeitet wurden - ausgewertet hat. Dabei wurden Fehler, Sackgassen und Erfolgsbarrieren erkannt, die der Fachbereich nun versucht zu beheben. Das nenne ich professionelles Arbeiten.
  3. Kompetenzausrichtung - Schon die Kompetenzrasterhefte zeigen den Stellenwert, dem man den im Rahmenlehrplan verankerten Kompetenzstufen beimisst. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt Schulen in denen eine nicht kleine Zahl an LehrerInnen Kompetenzen mit dem Satz abtut: „Alter Wein in neuen Schläuchen!“, um dann so weiter machen zu können wie bisher. An der Rütli nimmt man sich im Fachbereich GW des Themas voll an. Herr L. berichtete, dass man den neuen Fachbrief Nr. 26 „Leistungsbewertung“ als Grundlage genommen hat, um unter der Fragestellung „Was sollen unsere SchülerInnen können müssen?“ Leistungskontrollen zu konzipieren. Von diesen Konzepten ausgehend erschlossen sich die Inhalte. Bewusst wurde hier also mit dem gewöhnlichen Weg gebrochen - erst der Inhalt, dann der Test. Nein, hier hieß es: erst die Kompetenz, dann die Standards, dann die Themen/Inhalte. Das „Pferd wird hier also von hinten aufgezäumt“. Wird es gar besser gezäumt? Es gibt Unterricht, der spannend und gut ist und gleichzeitig hinsichtlich der Kompetenzorientierung mit nur geringer Wirkung. Der Weg der Rütli könnte vielleicht beides vereinen.




Dienstag, 30. Mai 2017

Trainiert uns in Kommunikation!

Mit einer meiner Lerngruppen bin ich zu Gast in einer anderen Schule, wo wir deren Sporthalle nutzen dürfen. Auf dem Weg zu den Mädchenumkleiden haben zwei "meiner" Schülerinnen (13 Jahre) eine vorbeilaufende Grundschülerin bedroht. Sie dürfe nicht in das obere Stockwerk gehen, wo wir Sport haben, da dort ein ein Verrückter auf sie warte, der ihr Gewalt antun würde. Danach wurden sie handgreiflich, rüttelten das Mädchen an ihren Schultern gepackt kräftig durch und drohten ihr erneut. 
Der "Fall" landete bei mir, als eine besorgte Lehrerin der Grundschule mitten im Unterricht auf mich zutrat und um Klärung des Vorfalls bat. Ich brach den Unterricht ab. Dann Zeugenbefragung und so weiter. Nach Klärung der Sachlage führte ich den Unterricht fort, an dessen Ende ich die beiden Mädchen zur Rede stellte. Was sich in diesem Gespräch zutrug war unglaublich! Es war der Prototyp eines Konflikt-Gesprächs zwischen Lehrer (mir) und einer der beiden Schülerinnen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommt. Das Gespräch strukturierte sich in vier Phasen:

1. Leugnen (Lügen, Abstreiten)
"Ich?" - ungläubiges Gesicht, nahe am Entsetzen. "Ich, ich habe nichts gemacht!" Diese Phase allein finde ich jedes Mal auf´s Neue hochgradig beschämend, befremdlich und unglaublich rätselhaft. Man kann es förmlich fühlen, wie sehr hier von der Wahrheit abgerückt wird und schlimmer noch, man fühlt auch, dass es der Gegenübersitzenden ganz ähnlich ergehen muss. Diese Diskrepanz zwischen Mimik, Gesagtem einerseits und der Tat andererseits, sie schreit zum Himmel! Es ist ein schamloses Ins-Gesicht-Lügen und irgendwie auch eine beeindruckende schauspielerische Leistung. Sie gefährdet die in Schule von Schülern und Lehrern gemeinsam umhegte und so überaus kostbare Pflanze namens Vertrauen. 

2. Bagatellisieren
Ein Pokerface ist immer ein Face auf Zeit. Früher oder später bekommt es im Angesicht der kalten Fakten kalte Füße. Dann folgt Phase 2. 
"Ja, okay, ich war dabei. Die Grundschülerin kam auf uns zu, hat uns gefragt, wer wir sind. Wir wollten mit der gar nicht reden. Das haben wir ihr gesagt."
Oh, das war es schon? Da haben die vier Zeugen etwas ganz anderes berichtet. 
Erneut gehe ich auf die unabhängig voneinander getroffenen Aussagen der Grundschülerin, ihrer Freundin sowie zwei Schülerinnen aus meiner Klasse ein. Das Gespräch wird nun zäh, denn es wird jetzt um die Wahrheit gerungen bzw. um die eigenen Reputation gekämpft, die durch Phase 1 ja leider schon etwas gelitten hat. Als Lehrer gilt es beharrlich zu sein, dann folgt Phase 3.

3. Schuld umkehren
"Krass, früher in ähnlichen Fällen hat nie ein Lehrer auf so etwas reagiert, aber jetzt, jetzt auf einmal wird daraus ein großes Ding gemacht." Diese Reaktion ist ähnlich der, die man viel häufiger hört und die exakt in die gleiche Kerbe haut: "IMMER ICH!" Dem Lehrer wird hier tiefenpsychologisch der Schwarze Peter zugeschoben. Die Täterin macht sich hier zum Opfer! Es geht auf einmal gar nicht mehr um den Fall und die Fakten, das eigene Fehlverhalten und die sperrige Möglichkeit einer Entschuldigung, nein, auf einmal wird auf einer Metaebene die scheinbare Ungerechtigkeit des Zur-Rechenschaft-Ziehens in den Vordergrund geschoben. Ich habe schon oft erlebt, wie mir in dieser Phase als Lehrer die Kontrolle des Gesprächs entglitten ist. Auf einmal wird es ganz diffus und haarig. Betritt man diesen Pfad des Gesprächs, d.h. verlässt man seine vorherige Linie, um sich hier zu rechtfertigen, hat der Schüler in 9 von 10 Fällen gewonnen. Die Konsequenz ist dann oftmals, dass der Schüler es tatsächlich schafft - außer des Streitgesprächs mit dem Lehrer - relativ ungeschoren davon zu kommen. Schlimmer noch, er schafft es oftmals den Lehrer derart unter (moralischen) Druck gesetzt zu haben, dass dieser sich kurz vergisst, den Pfad der Tugend tatsächlich aus den Augen verliert und somit dem Schüler nachträglich und ganz unfreiwillig doch Recht gibt. Denn nun beginnt der einstige Täter tatsächlich zum Opfer zu werden (Ein auf ein sitzendes Kind schreiender Lehrer! Wer ist hier in den Augen Außenstehender Täter und wer Opfer?). 

4. Verantwortung abgeben
"Wär ich heute bloß zu Hause geblieben, dann wär das alles nicht passiert!" 
Die Schülerin beschreibt sich als Opfer des Schicksals (die Täterin macht sich also zum wiederholten Male zum Opfer). Sie stilisiert sich als Opfer höherer Mächte. Passiv ist sie eine vom Leben Getriebene. Kein Gedanke daran, dass sie auch zur Schule hätte gehen und wählen können zwischen Drohen und Nicht-Drohen. Nein, diese Wahl schien sie irgendwie nicht gehabt zu haben. 
Verantwortung, Schuld, Selbstbewusstsein - diese Drei gehen hier Hand in Hand einen unschicken Gang. Wer das Schicksal in moralischen Fragen höher wähnt als das eigene Selbst, dem mangelt es ganz offensichtlich an Selbst-Bewusstsein. Wem es derart an Selbstbewusstsein mangelt, der kann im Schatten dieses übermächtigen Schicksals keinerlei Schuld tragen. Woher soll so jemand ein Gefühl für Verantwortung bekommen?


Warum schreibe ich das auf? 
WEIL ich mich frage, wo in unserer Ausbildung wir die Art zielorientierter, schuladäquater  und gewaltfreier KOMMUNIKATION erlernen? Ich kann mich an keinen derartigen Baustein meines Studiums oder Referendariats erinnern. 
Ich selbst habe mich heute im Gespräch nicht ganz kontrollieren können. Auf einer Skala von 1-10 würde ich mir eine 6 geben. Den Schwarzen Peter habe ich mir zwar nicht unterschummelnd lassen (das ist gar nicht mal so schlecht), aber mein Ton war aggressiv. Zu aggressiv. 

Wenn Inklusion heißt, dass man keinen Schüler und keine Schülerin beschämt, wenn es bedeutet, dass man auch SchülerInnen aus schwierigsten Verhältnissen und mit schwierigsten Persönlichkeiten die Hand reichen sollte, gilt das dann nicht auch und gerade für die schwierigsten Situationen, bspw. einen Konflikt? SchülerInnen, die nicht gelernt haben Verantwortung zu übernehmen, SchülerInnen, die zu Hause selbst erniedrigt werden oder Beschämung und Gewalt erdulden müssen, woher sollen sie wissen, wie man mit Schuld und Verantwortung adäquat umgeht? Was müssten wir LehrerInnen lernen, damit wir von diesen SchülerInnen auch in schwierigsten Situationen nicht abweichen und was müssten wir lernen, um uns gleichzeitig vor ihren Fallen, Tricksereien und Nebelkerzen zu schützen? Und letztlich: Inwieweit müsste ein Fach Namens KOMMUNIKATION verbindlich und in welchem Umfang für die Lehrerausbildung festgeschrieben sein?

Anbei ein paar Literaturvorschläge:
(Weitere folgen)