Donnerstag, 27. Juli 2017

Noten? Bitte frühestens ab Klasse 9. (Teil I).

Acht Fakten, die man in diversen Medien nachlesen kann, lassen aufhören!

A) Ein Freiburger Student bekommt zwei verschiedenen Noten für exakt die gleiche Hausarbeit.
Einmal 5 Punkte - also gerade so bestanden - und einmal 9 Punkte, also "befriedigend" (Spiegel Online 2017).

B) Jungen bekommen in allen Fächern bei gleicher Kompetenz schlechtere Noten als ihre Mitschülerinnen - sagt eine neue Studie des Aktionsrates Bildung und bestätigt damit ein Ergebnis, zu dem auch eine Untersuchung des Bundesbildungsministeriums gekommen ist (Spiegel  Online 2009).

C) Kinder mit Namen Kevin, Justin, Mandy oder Chantal werden von LehrerInnen mit hoher Wahrscheinlichkeit benachteiligt (Tagesspiegel 2009).

D) "Ich benote nach Sympathie", gesteht eine Lehrerin ganz offen und begründet das auf interessante Art und Weise (Spiegel Online 2014).

E) SchülerInnen aus bildungsfernen Familien bekommen bei gleicher Leistung häufig schlechtere Noten als SchülerInnen höherer Schichten (Tagesspiegel 2012).

F) Die Noten eines Kindes hängen häufig davon ab, in welcher Klasse es zufällig gelandet ist (Süddeutsche Zeitung 2012).

G) Unser Bildungssystem erzwingt, dass es SchülerInnen mit schlechten Noten geben MUSS (Süddeutsche Zeitung 2012).

H) Noten sind defizitorientiert (Welt 2017).

Wenn man über diese acht Headlines hinaus die Artikel liest, dann ließe sich zusammenfassend sagen: Noten sind ungerecht und der Entwicklung junger Menschen abträglich.
Doch warum halten wir dann noch immer so starr an Noten fest? 
Zwei Thesen seien hier gewagt:
  1. Um SchülerInnen - im Wechselspiel mit den Eltern - zu disziplinieren. 
  2. Um dem Grundcharakter unseres Schulsystems Rechnung zu tragen - der Selektion.
Ich will diese zwei Thesen hier nicht untermauern. Stattdessen möchte ich - ihre Stimmigkeit voraussetzend - festhalten, dass beide Gründe auf einen Sachverhalt hinweisen, der uns stark zu denken geben sollte: Noten sind nicht im Sinne der SchülerInnen gemacht.

Ich möchte das etwas am Beispiel der Inklusion vertiefen.

Im Grunde haben wir LehrerInnen drei Möglichkeiten zu zensieren.
a) Nach der Leistungsnorm.
Hochsprung in der Schule. SchülerInnen, egal ob groß oder klein, schwer oder leicht, aus Elternhäusern mit hohem oder niedrigem Bewegungsangebot, müssen in die Höhe springen. Benotet wird nach meist schulübergreifenden, manchmal bundesweit geltenden Leistungsnormen. Einsehbar auf der Tabelle in den Händen des/der jeweiligen SportlehrerIn. Note 4? Mindestens 1,10m. Für wen? Für jeden gleich, also für ALLE. 
b) Nach der Sozialnorm.
24 Schülerprodukte liegen auf dem Tisch. Der Lehrer schaut alle Produkte durch und bildet schließlich drei Stapel: links die am besten gelungenen, rechts die am wenigsten überzeugenden und in der Mitte die Produkte einer gewissen Mittelmäßigkeit. Die Noten für die Produkte werden nach der Sozialnorm gebildet, d.h. nach der jeweiligen Abweichung vom Klassendurchschnitt. 
c) Nach der Individuellen "Norm".
Ein Schüler mit großen Lernschwierigkeiten hat in einer Stunde aus einer Liste mit 10 Vokabeln sich vier merken können. In jedem normalen Test hätte er für dieses Ergebnis die Note 5+ bekommen (40% = 3 Notenpunkte). Dieser Schüler konnte sich bisher aber stets nicht mehr als zwei Vokabeln merken, hat sich in seiner Leistung also geradezu um das Doppelte gesteigert. Der Lehrer gibt dem Schüler deshalb eine gute Note. Er honoriert damit den Fleiß und die - für den Schüler - regelrecht außergewöhnliche Leistung. 

Man stelle sich vor, man hat eine Schülerin mit geistiger Behinderung in der Klasse, hinzu noch einen körperlich behinderten Schüler sowie drei SchülerInnen mit Förderstatus Lernen. Welcher der drei Möglichkeiten zur Leistungsbewertung wird diesen SchülerInnen am ehesten gerecht? Welche Möglichkeit gibt am meisten Motivation? Welche beschämt am wenigsten? Und welche erfasst am besten, was der/die jeweilige Schüler/in tatsächlich geleistet hat? 
Diese SchülerInnen werden im deutschen Bildungssystem zwar nach gesonderten Maßstäben zensiert, sie machen aber am besten deutlich, wie hinderlich, ja fast schon absurd, die ersten beiden Bewertungsmöglichkeiten wären, denn diese SchülerInnen würden - bis auf wenige Ausnahmen - IMMER zu den VerliererInnen gehören. Man denke sich nun die Gruppe der leistungsschwächeren SchülerInnen aufgrund bildungsferner, sozial schwierigster Elternhäusern hinzu. Wird unser tradiertes Bewertungssystem diesen SchülerInnen gerechter? Drängt sich die Frage auf, wer eigentlich die Gewinner dieses Systems sind. Nichtbehinderte Kinder aus dem Bildungsbürgertum! Man fühlt sich an BORDIEU und den Begriff des kulturellen Kapitals erinnert...
Bleibt die Leistungsbewertung nach der Individuellen Norm. Hier drängt sich eine andere Frage auf: Wenn ich mich auf die individuelle Leistungsentwicklung eines Kindes beziehe, warum sollte ich diese Entwicklung ausgerechnet mittels einer Note festhalten wollen? Warum Noten? Die individuelle Leistung steht ja v.a. erst einmal für sich. Kein Zwang zum Vergleich, lediglich im Sinne des eigenen Entwicklungsprozesses. Statt Noten könnte man dann tatsächlich auch Farben verteilen (siehe Blogeintrag "Farbe bekennen")

Noten sind ungerecht! Einige Berliner Schulen haben das erkannt und sich vernetzt. Sie gehen einen neuen, einen anderen Weg. Bis zur neunten Klasse verzichten sie auf Noten. Zusammen wollen sie ein einheitliches Konzept der Leistungsbewertung erarbeiten, das auch von anderen Schulen als Alternative zum derzeitigen Noten- und Punktesystem anerkannt wird. Der stellvertretende Vorsitzender des Berliner Verbands der Gesamtschulen (GGG) gibt diesbezüglich ein bemerkenswertes Interview.  

Ein wesentlicher Punkt wird in der Debatte um Noten meines Erachtens jedoch nicht bedacht:
Wenn wir Noten - als Hilfsmittel einer effizienten Selektion ablehnen - warum sollten wir dann an Gymnasien - als Aushängeschild eben jener Leistungsselektion - so unnachgiebig festhalten?

Donnerstag, 6. Juli 2017

Der Schüler ist von Natur aus gut.

Hobbes - Leviathan
Es gibt zwei philosophische, sich widersprechende Positionen zur moralischen Natur des Menschen.
Die eine spiegelt sich in den Worten von Thomas Hobbes wieder: Homo homini lupus est. Der Mensch ist des Menschen Wolf.
Die andere findet sich bei Jean-Jaques Rousseau: Der Mensch ist von Natur aus gut.
Unabhängig davon, inwiefern sich die Natur des Menschen überhaupt bestimmen lässt und welche moralischen Kriterien der jeweiligen Position zu Grunde liegen, als Arbeitshypothesen bieten beide Positionen allerhand Erkenntnispotential - gerade auch in Bezug auf Schule.

Der Mensch ist des Menschen Wolf. Dieser Position liegt v.a. das Prinzip ANGST zugrunde. Die Zivilisation, die Kultur, die Schule gilt hier als Rettung. Ihrer bedarf es, um den Menschen zu bändigen, zu zügeln, zu begrenzen und zu zähmen. 
Eine Schule, die dieses Bild favorisiert, sieht im Schüler als Menschen eine Bedrohung. Ihn gilt es in die Spur zu bringen, zu disziplinieren, zu erziehen. Eine solche Schule setzt folgerichtig auf Ordnung, Bestrafung, Belohnung und Normierung. Etwas zu leisten, d.h. nach gesellschaftlichen Bewertungsschemata zu funktionieren, ist ihr oberstes Gebot. Das Bildungs-SYSTEM ihre Grundlage.

Ganz anders die zweite Position. 
Der Mensch ist von Natur aus gut. Erst die Gesellschaft macht ihn schlecht. Diese Sichtweise Rousseaus wendet sich dem Menschen mit dem Glauben an ihn, d.h. voll HOFFNUNG zu.
Eine Schule, die dieses Bild favorisiert, sieht im Schüler als Menschen das grundsätzlich Gute. Sie versucht dieses Gute zu bewahren, zu schützen, zur Entfaltung zu bringen. Nicht Strafe und Ordnung stehen im Fokus, sondern Schutz und Fürsorge. Eine solche Schule gibt ihren Schülern primär keine Antworten, sondern stellt ihnen vor allem Fragen - Nach ihren individuellen Bedürfnissen. Nach ihren jeweiligen Interessen und Fähigkeiten. Nach ihren konkreten Ängsten und Hoffnungen. Nach ihren Nöten und Lebensverhältnissen. Eine solche Schule vermisst ihre Schüler nicht nach ihren Leistungen, die die Gesellschaft als solche definiert. Vielmehr schafft sie zahlreiche FREI-Räume zur Entfaltung - unter Umständen auch wilder - Individualität. 
Sie richtet zudem ihren Blick kritisch auf Gesellschaft und damit letztlich kritisch auf sich selbst. Sie begrenzt sich folgerichtig, anstatt maßlos und übergriffig zu sein. Sie achtet Transparenz statt Abschottung, Flexibilität statt Starrheit, Partizipation statt Hierarchie, Inklusion statt Aussonderung. Ihr Fundament ist mehr MILIEU denn System.

Schauen wir kritisch auf die Schulen unseres Landes, was sehen wir? Sehen wir eher Hobbes´sche oder eher Rousseau´sche Schulen? Dominiert das Prinzip Angst oder das Prinzip Hoffnung? Forcieren wir Leistungsnormierung oder ermöglichen wir Individualität? 

Und unabhängig davon was wir sehen, was überhaupt wollen wir?