Donnerstag, 22. Dezember 2016

Farbe bekennen

Auf Spiegel-online habe ich heute einen Artikel über eine Schweizer Schule gelesen. Dort werden Farben statt Noten verteilt. Ich persönlich stehe der Benotung von SchülerInnen sowieso kritisch gegenüber, aber das ist nicht der Grund, warum ich diesen Artikel empfehlen möchte. Vielmehr finde ich viel grandioser, dass er zeigt, was an Schule alles möglich ist.  
Wer also Schulentwicklung mitgestalten möchte, kann gar nicht groß genug denken. Alles ist hinterfrag- und veränderbar, nichts muss, alles kann. Und nicht nur in der Schweiz, auch hier in Berlin sind die Gestaltungsmöglichkeiten riesig. Rhythmisierung des Schulalltags? In den Händen von uns LehrerInnen! Notenvergabe an Schule? Unser Ding! Projektbezogenes, fächerübergreifendes Lernen? Gibt´s schon!
Wir, die wir Schule verändern möchten, sollten also aus dem Vollen schöpfen. Wir sollten uns fragen, welche Schule wir uns wünschen! Wir sollten fantasievoll träumen. Groß und bunt! Und dann sollten wir schauen, wie und mit wem setzt man um, was man für richtig hält. Auf geht´s!

Freitag, 16. Dezember 2016

Donnerstag, 24. November 2016

Außergewöhnliche Schulen

Jakob Muth
Morgen geht es mit der gesamten Weiterbildungsgruppe nach Hamburg. Zum Hospitieren. An Vorzeigeschulen zur Inklusion. Ich freu mich schon drauf! Es wird bestimmt spannend.
Konkret werden wir die:
besuchen. 
Eine unserer vorbereitenden Aufgaben ist, dass wir die Homepage unserer jeweiligen Hospitationsschule studieren sollen, um vorab wichtige Dinge zur Schulentwicklung und zum Schulprogramm zu erfahren. Allein dieses Nachlesen gibt derart viele Denkimpulse, dass man festhalten kann, dass gute Schulentwicklung neben dem Hospitieren auch ein genaues Studieren von Schulhomepages beinhalten sollte
Bei meinen Recherchen zur Max-Brauer-Schule bin ich beispielsweise auf die "Club of Rome Schulen" sowie die mit dem Jakob-Muth-Preis ausgezeichnete Schulen gestoßen. Beide Institutionen bieten durch entsprechende Kriterienkataloge (zum Beitritt oder zum Preiswettbewerb) starke Orientierungspfeiler für die eigenen Schulentwicklung.

Erinnert sei an dieser Stelle auch an die reformpädagogisch orientierten Schulen im Verbund "Blick über den Zaun".


Samstag, 19. November 2016

Paula-Fürst-Schule I

Lernen von den Besten

Am 04.11.2016 hospitierte ich an der Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule Berlin in einer JÜL-Klasse (Jahrgangsübergreifendes Lernen, 1.-3. Klasse) bei Frau S.Mein Erster Eindruck war nahezu überwältigend. Der Klassenraum platzte vor Lernmaterial, Plakaten, Instrumenten, Ordnern, Schaugegenständen, und vielem mehr, nahezu aus allen Nähten. „Hier könnte ich weder unterrichten noch lernen!“ waren meine ersten Gedanken. Fasziniert war ich trotzdem. Dann ging es los. Nacheinander trudelten die Schüler ein und begannen fließend mit der Freiarbeit. Eineinhalb Stunden später stellte ich fest, dass es hervorragend funktioniert hatte. In meiner eigenen 7. Klasse dagegen ist es mit dem selbstständigen Arbeiten meist ein Krampf. Warum war das so? Was hatte die Lehrerin (sie war alleine) getan, welche Strukturen hatte sie gesetzt, damit selbstständiges Lernen erfolgreich gelingen konnte? Ich denke Folgendes ist wesentlich:

  • JÜL: Frau S. hat eigentlich nie eine neue Klasse, d.h. sie fängt eigentlich nie bei Null an. Ein Teil der SchülerInnen weiß stets schon Bescheid. Wo liegen welche Materialien? Was bedeuten welche Rituale? Wie beginnt die Freiarbeit und wo kann ich mir Hilfe holen? All das und vieles mehr wird von den älteren an die jüngeren SchülerInnen weitergegeben. Hinzu kommt, dass die Älteren den Jüngeren assistieren, ihnen auch inhaltlich ggf. weiterhelfen. 
  • Begrüßung: Die SchülerInnen treten nacheinander in die Klasse ein und werden individuell von der Lehrerin begrüßt. Eine initiale Begrüßung an alle entfällt. Was nicht heißt, dass sich die Lehrerin nicht auch an alle wendet, aber das macht sie nur, wenn sie auch von allen etwas Gleiches will. Es ist auffällig, frontaler Unterricht scheint klassischer Weise auch mit einer frontalen Begrüßung an alle, individualisierte Freiarbeit mit einer Begrüßung an den Einzelnen zu beginnen.  
  • Anfangsritual: Die SchülerInnen sollen am Anfang der Freiarbeit den Tagesplan in ihr Logbuch abschreiben sowie ihr individuelles Freiarbeitsziel. Damit schafft sich die Lehrerin quasi einen Puffer, denn die SchülerInnen werden natürlich unterschiedlich schnell fertig, so dass die Lehrerin die ersten schon beraten bzw. in die Spur helfen kann, während die anderen noch leise abschreiben. Auch ist sofort eine (leichte) Aktivität aller gewährleistet. 
  • Raum: Der Raum ist nicht klassisch gestaltet, sondern in mehrere Lernnischen unterteilt. Die Tafel bildet nicht das Zentrum des Raumes, sondern ein runder roter Tisch, an dem die Lehrerin sich oft zur Verfügung stellt. Die Tür steht offen. Während der Freiarbeit arbeiten mehrere SchülerInnen vor dem Raum in weiteren Lernnischen. Der Raum unterstützt also die angestrebte Aktivität bzw. Lernform. Zum Frontallernen wäre er nahezu ungeeignet. D.h. wer individualisierten Unterricht haben möchte, der muss sich auch räumlich neu orientieren. Von den SchülerInnen wird dies übrigens verlangt, denn sie haben keine klassische Sitzordnung. Jeder hat zwar einen zugewiesen Sitzplatz/Bereich, in den Phasen der Freiarbeit gilt dieser aber nicht. Vielmehr sitzen die SchülerInnen da, wo sie etwas am besten lernen können – die Sitzordnung richtet sich also nach den jeweiligen Bedürfnissen der SchülerInnen – also nach dem Wunsch nach Hilfestellung, dem Bedarf an Material, dem Ruhebedürfnis, nach Sympathie, Schutz- und Aufmerksamkeitsbedürfnis… 
  • Regeln: Frau S. hat die einzige Regel in einen goldenen Bilderrahmen neben die Tür gehängt. Die Regel ist simpel und kraftvoll, laut Frau S. ist sie gewisser Maßen eine Essenz ( „Eine inklusivere Regel gibt es nicht!“). In dem Bilderrahmen steht schlicht, aber in goldenen Lettern: Ich gebe mein Bestes! 
  • Materialangebot: Das Material- und Aufgabenangebot ist riesig! Und mindestens genauso wichtig, es ist auch haptisch! Nur Arbeitsblätter? Fehlanzeige! Stattdessen: Puzzleteile, mittels deren Hilfe man eine eigene Europakarte malt/ Ketten und Perlen zum Rechnen/ Zeitungen zum Erarbeiten der aktuellen Weltnews/ Buch und laminierte Karten zum Bestücken und Beschriften einer riesigen Afrikakarte/ Matherollen, die mit gelerntem Wissen anwachsen/ magnetische Stäbchen zum Bauen diverser geometrischer Figuren/ einen Rollteppich zum Belegen mit Mathelösungen/ usw. usf. Montessori! Grandios! Zudem, ein Scheitern aufgrund vergessener Arbeitsmaterialien ist nicht möglich, denn es gibt frei zugänglich Scheren, Kleber, Radiergummi, Stifte und Papier. 
  • Ruheritual: Es gibt ein Glöckchen. Wenn es ertönt, soll Ruhe einkehren. So etwas nutzen viele Lehrer, aber Frau S. nutzt es auf sehr interessante, andere Art und Weise: Wenn es einem Schüler zu laut wird, dann ist dieser angehalten nach vorne zu kommen und das Glöckchen zu läuten. Der Impuls geht also von den SchülerInnen aus. Sie übernehmen damit Verantwortung für ihr Lernen. Und sie üben kooperatives, soziales Verhalten, denn wenn jemand läutet, sind alle angehalten alles aus der Hand zu legen, die Augen zu schließen und leiser als bisher weiterzuarbeiten, wenn das Klingen des Glöckchens verstummt ist. Zusätzlich gibt es Kopfhörer/Ohrschützer, falls man absolute Ruhe wünscht, sie aber nirgends findet. 
  • Hilfestellungen/ Kooperation: Kein Schüler wird alleine gelassen! Überall an den Wänden und in den Lernnischen finden sich Hilfsschilder zu grundsätzlichen Dingen (Buchstabenschreibweise, Grundrechenarten etc.). Ein Sich-beschämt-Fühlen aufgrund nachgewiesener grundlegender Wissenslücken, das könnte hier in diesem Raum der Vergangenheit angehören. Darüber hinaus sind die SchülerInnen angehalten die Freiarbeit zu zweit zu machen. Des Helfens und des Austauschs, des Redens über die Sache und damit des Lernens wegen. Zudem gibt es Trainer-Sportler-Tandems. Trainer sind SchülerInnen, die bereits eine gewisse Expertise aufweisen und den Sportler, der Motivation, Durchhaltevermögen und Grundlagen mitbringt (also kein Nichtskönner ist), auf ein neues Niveau hieven wollen. Dabei sollen sie selbst auch lernen. 
  • Lerndokumentation: Via Logbuch reflektierten die SchülerInnen ihr eigenverantwortliches Tun. Das Logbuch schien Dreh- und Angel-, aber auch Fix- und Orientierungspunkt für das Lernen der SchülerInnen zu sein. 
  • Noten: Die SchülerInnen bekommen keine Noten. Lernen bekommt hier ein anderes Fundament. Nicht für Noten wird hier gelernt, sondern für sich. D.h. auch, dass dieser notenfreie Raum kongruent mit der Idee des individualisierten Lernens geht. Denn: Noten bedeuten ja gerade eine Ausrichtung an der Norm, während individualisiertes Lernen eine Ausrichtung am Individuum, also sich selbst meint. 
  • Bedürfnisorientierung: Zu meiner Überraschung geht nach ca. einer Stunde das Licht aus und leise Musik ertönt. Entspannungszeit! Wie selbstverständlich legen einige SchülerInnen den Kopf auf den Tisch, andere holen ein Kissen. Kopf auf dem Tisch bedeutet, dass man massiert werden möchte. Die Lehrerin geht rum und massiert die Rücken der SchülerInnen. Diese haben geschlossene Augen, wirken völlig entspannt und v.a. sieht man ihnen an, wie wohl sie sich fühlen. Zum Teil bilden sich wahre Massierketten: Die SchülerInnen massieren sich gegenseitig. Es gibt sogar einen Massierdienst, der ist heute aber nicht aktiv. Die SchülerInnen und die Lehrerin so zu beobachten ist wahrlich berührend. So kann Schule sein. Angstfrei. An den Bedürfnissen der SchülerInnen orientiert. Da fällt mir auf, die SchülerInnen haben alle auch Hausschuhe an. Anschließend holt jeder sein Pausenbrot raus. Es wird gemeinsam gefrühstückt, gleichfalls ist die Stunde aber noch nicht zu Ende. 
  • Lehrerrolle: Die Lehrerin war toll! Warmherzig, freundlich, umsorgend, aber auch klar, präsent, ordnend, einfordernd. Und kollegial. So schwörte sie die Klasse bspw. ein, die nachfolgende Lehrerin zu unterstützen, da diese nicht Klassenlehrin sei und es demzufolge weniger leicht habe, da sie die Klasse nicht so gut kenne. Als ein Schüler einen anderen bei ihr „anschwärzen“ wollte, sagte sie: Schüler X ist Dein Klassenkamerad, nicht wahr? Du hältst also zu ihm und verpetzt ihn nicht. Du hältst zu ihm und wenn es sein muss, gegen mich. Ist das klar?!“ Summa Summarum war die Lehrerin ein nachahmenswertes Vorbild. 
  • Elternarbeit: Die Lehrerin nimmt die Bedürfnisse der Eltern wahr und geht auf diese ein. Bspw. hatten mehrere Eltern geklagt, dass ihre Kinder kaum was von der Schule erzählen und sie zudem nicht wissen, was der Stand des Lernens ist. Daraufhin führte die Lehrerin eine Hausaufgabe ein, die sie an ein emotionales Erlebnis knüpfte (treffen mit einem Dichter und Musiker). Diese Hausaufgabe gab den Eltern die Chance mit ihren Kindern ins Gespräch zu kommen und via Bemerkungen seitens der Lehrerin Einblicke in den Leistungsstand zu erhalten.

Abschließend muss ich sagen, dass mir die Zeit erneut (ähnlich wie in der Hospitation an der Heinrich-von-Stephan-Schule) seltsam erschien. Auch hier war es nur eine reguläre Doppelstunde, aber die Zeit kam mir dichter, intensiver genutzt vor. Über die Zeit würde ich gerne zu einem späteren Zeitpunkt
nochmal gesondert nachdenken.



Auf den Lehrer kommt es an!

Man könnte gegen Wocken die Studie von John Hattie ins Feld führen, auch wenn mir bewusst ist, dass:

  • sich die Befunde nicht 1:1 auf die deutsche Schulwirklichkeit übertragen lassen, da sich Hatties Datengrundlage v.a. auf das angelsächsische Bildungssysteme bezieht. 
  • Kreativität oder Demokratiefähigkeit, der Sinn für Ästhetik und für das Soziale in Hatties Listen als Lernziele nicht auftauchen, da ihn nur messbare kognitive Fachleistungen interessierten.

Ich beziehe mich nachfolgend auf den Artikel aus der Zeit.

Am Ende seiner Studie stellt Hattie eine Art Bestenliste der wirkungsvollsten pädagogischen Programme zusammen. Ganz unten in der Tabelle: Äußere Strukturen von Schule und Unterricht. Die größten Unterschiede im Lernzuwachs bestehen nicht zwischen Schulen, sondern zwischen einzelnen Klassen, und das bedeutet: zwischen einzelnen Lehrern. Das ist Hatties zentrale Botschaft! Was SchülerInnen lernen, bestimmt der einzelne Pädagoge. Alle anderen Einflussfaktoren – die materiellen Rahmenbedingungen, die Schulform oder spezielle Lehrmethoden – sind dagegen zweitrangig. Auf den guten Lehrer kommt es also an.


Für Hattie darf ein guter Lehrer kein bloßer Lernbegleiter sein, kein Architekt von Lernumgebungen. Will er etwas erreichen, muss ein Lehrer sich vielmehr als Regisseur verstehen, als »activator«, der seine Klasse im Griff und jeden Einzelnen stets im Blick hat. Auch dass die Individualisierung des Unterrichts per se eine hohe Lernwirksamkeit besitzt, kann man nach Hatties Befunden nicht sagen. Vielmehr sind folgende Lehrereigenschaften sehr erfolgsversprechend:
  • stringenten Klassenführung
  • Transparenz und Klarheit (SchülerInnen also verständlich machen könne, was man als Lehrer von ihnen will)
  • Perspektivwechsel und permanente Selbstreflexion (»Ein guter Lehrer sieht den eigenen Unterricht mit den Augen seiner SchülerInnen«/ Wenn meine Klasse nicht vorankommt, sollte die Frage lauten, was mache ich falsch, was kann ich ändern?).
  • Feedbackkultur pflegen (Kein anderes Instrument kann in Hatties Ranking eine größere Effektstärke aufweisen als die systematische Selbsteinschätzung von SchülerInnen. Hattie predigt eine Kultur des »Feedbacks«, kein Begriff fällt häufiger in seinem Buch.)
  • Fehler schätzen (Fehler als die eigentlichen Treiber allen Lernens/ »the essence of learning« begreifen).
  • Breites Repertoire an Unterrichtsstilen (besonders wirksam ist die »direkte Instruktion«, also der häufig als Lehrermonolog missverstandene Frontalunterricht. Auch der offene Unterricht kann durchaus ertragreich sein – wenn die SchülerInnen dem eigenständigen Lernen gewachsen sind und die LehrerInnen es gründlich vorbereiten und über seinen Verlauf penibel wachen. Dass beides jedoch anscheinend selten zutrifft, darauf verweisen Hatties Forschungsergebnisse. Jedoch, ein guter Lehrer verfügt für Hattie eh über ein breites Repertoire von Unterrichtsstilen, die er je nach Klasse ausprobiert, »evidenzbasiert« prüft und – wenn nötig – auch wieder verwirft. »There are no magic bullets«, sagt Hattie, es gibt keine pädagogischen Patentrezepte.)
  • Emotionale Seite des Lernens berücksichtigend (Ohne Respekt und Wertschätzung, Fürsorge und Vertrauen könne Unterricht nicht gelingen.)

Gute Pädagogen sind also wichtig. Die logische Schlussfolgerung: es gibt auch schlechte Vertreter des Metiers. Letztlich müssten wir laut Hattie also weniger unser Bildungssystem grundlegend umdenken, als vielmehr den Lehrer ins Zentrum allen Redens über Schule stellen. Denn, auf den Lehrer kommt es an! Die ZEIT fragt diesbezüglich: „Das klingt banal, (…). Doch warum glaubt die Politik noch immer, Lernergebnisse mit Strukturreformen verbessern zu können? Wieso blüht gerade in der deutschen Schuldebatte ein Methodenglauben?“ Man ist geneigt, nach der Begegnung mit Hans Wocken, sich letztere Frage selbst einmal zu stellen?



Indirekter Unterricht

Aus dem Vortrag von Prof. Dr. Hans Wocken 
Am 14.10.2016 hielt Prof. Dr. Hans Wocken - jener Hans Wocken, der dem deutschen Bildungssystem mangelnde Inklusion bescheinigt - einen Vortrag über "Inklusiven Unterricht" an der FU Berlin. Ich persönlich habe diesen Vortrag als sehr bereichernd erlebt. Eloquent vorgetragen, mit ruhiger, schöner Stimme. Medien- und Anekdotengestützt. Dazu ein bunter Strauß an Maßnahmen, wie man ganz konkret inklusiven, d.h. für Wocken indirekten Unterricht gestalten kann. Das hat mir gefallen. Ebenso fand ich es ein sehr schönes Gefühl, nach Jahren des Schulalltages, mal wieder in einem Vorlesungsaal diese studentische Atmosphäre zu schnuppern.
Das Bild jedoch, das mir nach zwei Wochen Ferien noch immer im Kopf herumgeisterte, ist alles andere als positiv besetzt. Es handelt sich um dieses schreckliche Ampel-Ritual, was Wocken in seinem Vortrag positiv hervorhob: Vor den jeweiligen Tischen eines Lehrerzimmers standen Ampeln. Rot bedeutete, dass man den Lehrer gerade nicht ansprechen könne, Gelb war so eine Art Standby-Modus und bei Grün war der Lehrer dann so weit. Vor den Tischen geisterten Schüler herum. Schrecklich! Und kalt! Mechanisch irgendwie! Zu Tode strukturorganisiert, könnte man sagen. Es hatte etwas vom Nummernziehen auf dem Arbeitsamt. Fast schon kafkaesk. Man hätte den Schülern ja auch einfach beibringen können, höflich nachzufragen, kurz zu warten, Termine abzusprechen – sprich angemessen kommunizieren zu lernen. Stattdessen… Gar nicht auszudenken, die Ampeln kämen abhanden, bräuchte man dann einen Lehreransprech-Verkehrspolizisten?

Mechanisch. Kalt. Hm…Um ehrlich zu sein, dieser indirekte, delegierte Unterricht erweckt bei mir stets zweierlei – Interesse und Abneigung, letztlich also tiefgehende Ambivalenz. Es hat was mit diesem mechanisierten Unterrichtsgebaren zu tun, in dem der Lehrer hauptsächlich in die Rolle des Mentors und Begleiters zurücktritt. Manchmal fast ganz von der Bildfläche zu verschwinden scheint.
Ich selbst habe einen kleinen Sohn. Oftmals ertappe ich mich dabei, wie ich ihn anrege, indem ich die Dinge zu mehr mache als sie sind - sie förmlich aufblase, groß mache, ihnen Leben und vielleicht Faszination einhauche. Und noch viel öfter ist es umgekehrt der Fall. Die Vorstellung wir würden uns gegenseitig Lern- oder Spielarrangements hinlegen… Ich weiß nicht. Eher scheinen wir den Dingen gemeinsam Bedeutung zu geben. Durch Interaktion, Emotionen, Phantasie, Humor, gestreute Zweifel, usw. Vielleicht könnte er dies auch mit einem Gleichaltrigen, aber wäre das nicht eher wie Schwimmen im eigenen Saft? Ist meine Rolle als Lehrer, der ein anderes Überblicks- und Allgemeinwissen hat, nicht zu großem Teil auch die Emotionalisierung und damit einhergehend Eröffnung fremder Welten, d.h. dem Schüler fremde Welten?
Wocken meinte im an die Vorlesung anschließenden Workshop ja selbst, dass für ihn der indirekte Unterricht nicht alleinig stehen dürfe, sondern dass er stets durch direkten und kooperativen Unterricht flankiert werden müsse. Für mich klang dieser Nachschub von einem offensichtlichen Verfechter des delegierten Unterrichts nicht glaubhaft. Eher halbherzig.
Dabei verraten seine Methodikvokabeln schon so viel: Lernkontrakte! Die Sprache von Justiz und Wirtschaft. Oder Kompetenz-Raster, also eine Art (Raster-)Fahndung nach Kompetenzen! Ein Vermessen des lernenden Individuums. Welches Kind will das, will das von sich aus?

Es bleibt dabei. Ich bin ambivalent. Positiv in Erinnerung - und deshalb läuft dieser Artikel auch unter dem Label: Lösungen - ist mir die Friedensbrücke geblieben oder der Raum als 3. Pädagoge, oder die Think-Pair-Share-Methode, oder die Improtechnik des „Gebärdendolmetschers“, die mir wiederholt zeigt, wie fruchtbar Theatertechniken sein können. Letztere belegen meines Erachtens, dass Kultur in Schule gar nicht hoch genug gewertet werden kann, weil sie das leistet, was nicht zu kurz kommen sollte: Emotionalisierung und Identifizierung.



Mittwoch, 16. November 2016

Konzeptgruppe BLAU

Ich möchte Schule verändern! Zeitnah, zum Besseren, schülerorientiert, inklusiv - aber nicht um jeden Preis. Meine Erfahrung sagt mir, dass Schulentwicklung zäh und voller Widerstände ist. Denn die dafür zuständigen Schulgremien jeglicher Art sind auch immer Orte von Interessenskämpfen, Profilneurosen, Hierarchie- und Zuständigkeitsgedöns. Das verzögert, lähmt, frustriert! Wie also vorgehen?

Diese Frage hat mich in den letzten Wochen umgetrieben und ich habe letztlich Folgendes unternommen:
  • Gespräche in Hospitationsschulen über gelingende Schulentwicklung geführt
  • einen starken, positiv gestimmten und tollen Mitstreiter gefunden
  • weitere Gleichgesinnte per Gespräch und offener Mail gesucht, eingeladen und gefunden
  • einen (wenig genutzten) Raum zusammen mit unserem tollen Hausmeister für uns umgestaltet und methodisch aufgerüstet (Whiteboard montiert, Methodenkoffer angeschafft)
  • ein erstes Treffen organisiert
  • dem Kind einen Namen gegeben

Unsere Konzeptgruppe heißt: "Konzeptgruppe BLAU".
Wofür steht dieser Name? Vor allem für ins Blaue denken! Tabu-los, Grenzen-los, ohne störende Formalien und Hierarchien. Die Gruppe versteht sich als Ideenschmiede und Ideenpool. Offen für jede/n. Im Zentrum all unserer Überlegungen steht die Frage: Wie stellen wir uns die Schule der (nahen) Zukunft wünschenswerter Weise vor?

Und gestern war es nun so weit! Unser erstes Treffen! Fünf Personen an einem Tisch (zwei weitere Mitstreiter leider verhindert). Trotz unterschiedlicher Ideen und Ansätze, alles Gleichgesinnte! Was für ein schönes Gefühl.

Wie sind wir in unserem ersten Treffen vorgegangen:
  1. Vergewissern: Erzählen, warum jeder Einzelne der Einladung gefolgt ist (Beweggründe)
  2. Brainstormen: Auf Methodenkarten notieren, was wir konkret an unserer Schule angehen wollen (Wünsche; Arbeitsschwerpunkte; Ideen).
  3. Clustern: Die Methodenkarten an der Tafel besprechen und nach Schwerpunkten clustern.
  4. Ranken: Abstimmen darüber, mit welchem Schwerpunkt wir beginnen möchten und welcher Schwerpunkt warten kann/muss. Jeder durfte drei Stimmen abgeben, so entstand ein Ranking unserer sechs Schwerpunkte.
  5. Daten: Einen neuen Termin ausmachen, um mit unserem ersten Schwerpunkt starten zu können, ihn neu, verschieden, kontrovers, differenziert zu denken und von da aus Schritte anzubahnen, wie wir was, wann, konkret und möglichst unbürokratisch umsetzen.
Was soll ich sagen? Es fühlte sich toll an! Positiv. Offen. Freundlich. Miteinander. Vital. Wertschätzend. Sinnvoll. Strukturiert. Zielorientiert. Effektiv. Produktiv. Gleichwertig. Richtig.


Dienstag, 1. November 2016

Ohne Arme. Ohne Beine. Ohne Worte.

Janis McDavid - SPIEGEL ONLINE 31.10.2016

Sonntag, 30. Oktober 2016

Die Sprache zählt.

Nachfolgende Gedanken beruhen z.T. auf Denkimpulsen von Prof. Dr. Ramseger sowie meiner Mentorin Frau André, die beide Behörden- und Verwaltungsprache nicht unkritisch gegenüber stehen. 

Sonderpädagoge. 
Sonder-pädagoge. Warum eigentlich sonder? Warum nicht Förder-Pädagoge? Man möchte doch fördern, unterstützen, stark machen. Andererseits, das sollte ja jeder Pädagoge/-in möchten, wäre also tautologisch. 
Warum also sonder, was meint man damit?
Meint man etwas den Sonderling, den es zu fördern oder gar abzusondern gilt? Dieses sonderbare Kind mit Behinderung? Dieses Individuum sondergleichen
Oder meint dieses sonder, dass der Pädagoge besonders sei, eine spezielle Ausbildung habe? Falls letzteres gemeint ist, ist diese Spezialisierung dann noch zeitgemäß? Ist sie Inklusion eher zu- oder doch eher abträglich, im Sinne von: Nimm Du mal dieses Kind, Du bist ja schließlich SonderpädagogIN...? Ich selbst bin mir da noch unschlüssig.

i-Kinder. 
Noch so ein Wort. Man meint die Inklusions-Kinder, also die mit einem Status oder einer Behinderung. i-Kinder hat was von Iiiiiiiieeeee-Kinder. Klingt nach "Igitt!" Zudem meint es Kinder, die inkludiert werden müssten. Dabei muss kein Kind inkludiert werden, wenn eine Schule inklusiv arbeitet. Inklusion gibt es - konsequent zu Ende gedacht - nämlich eigentlich nur ganz. Entweder alle Kinder werden in-klusive gedacht oder der Teil, der als "zu inkludieren" gefasst wird, wird durch dieses Denken ex-klusiv.

Weiteres mit fahlem Beigeschmack.
Ein Klassiker unter den Beschreibungen mit fahlem Beigeschmack ist wahrscheinlich das Brechen an der Norm mittels der Begriffe normal/unnormal und die oftmals einhergehende, manchmal folgenschwere Wertung: gesund/krank. Verniedlichende Bezeichnungen (wie Downies - für Menschen mit Trisomie 21) zielen derweil auf die Würde, das plumpe Duzen auf die Kommunikation in Augenhöhe.
Und so weiter und so weiter. Unsere Sprache. unser Denken und folglich unser Handeln sind voll von Anmaßungen gegenüber Menschen mit Behinderung. Manchmal ist uns/mir das gar nicht richtig bewusst.

Zur Bewusstmachung lädt eine interessante Webseite ein:
www.leidmedien.deVon daher stammt auch ein Leidfaden hinsichtlich möglichst zu vermeidender Beschreibungen.




Freitag, 14. Oktober 2016

Index für Inklusion (Schulentwicklung)

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonventionen durch die Bundesregierung Deutschland im Jahr 2009 ist Inklusion für deutsche Schulen verpflichtend geworden. Die Frage der Inklusion ist also keine Frage des Wollens weniger (sich hierfür zuständig fühlender PädagogInnen),  sondern eine Frage des Sollens aller PädagogInnen. Sie ist bindende Pflicht, nicht vernachlässigbares Recht. Insofern sind die Schulen ausnahmslos angehalten sich auf den Weg der Inklusion zu begeben.
Ein diesbezüglich wirksames Instrument für Schulentwicklung ist der Index für Inklusion. Im Vorwort heißt es:

"Dieser (...) Index für Inklusion stellt (...) einen Fundus dar, aus dem Schulen schöpfen können, (...), wenn sie vor der (...) Aufgabe der Selbstevaluation stehen. So muss nicht jede Schule das Rad der Schulentwicklung wieder völlig neu erfinden. Der Index macht Vorschläge, er ist kein Test für Schulen, die als Ergebnis bescheinigt bekommen, wie sehr - oder auch wie wenig - sie inklusiv sind. Er ist also kein Pflichtkurs, (...), sondern der Index bietet eine Systematik, die dabei hilft, nächste - und zwar angemessen große oder kleine, verkraftbare, realistische - Schritte in der Entwicklung zu gehen, zum Beispiel im nächsten Schuljahr."

Der Index ist also von Schulen als Instrument nutz- und modifizierbar. Für eine Standortbestimmung. Für die Entwicklung eines Schulprofils/-programms. Und für theoretische Überlegungen wie Inklusion praktisch gelingen kann. 
Er ist in fünf Kapitel unterteilt:
  1. Theorie
  2. konkrete Prozess-Vorschläge
  3. Materialien für die Analyse
  4. Fragebögen
  5. weiterführende Literatur und Glossar
V.a. die Fragebögen bieten Anlass für eine fruchtbare Diskussion. Sie sollten nicht nach dem Prinzip JA/NEIN abgehakt werden, sondern als Möglichkeit verstanden werden, sich an der jeweiligen Schule bereits genutzter Inklusionsperlen bewusst zu werden sowie sich auf neue, weiterführende Ziele zu verständigen.


Neben dem sehr umfangreichen Index für Inklusion als Instrument der Schulentwicklung gibt es vom Lisum zwei sehr empfehlenswerte Quick-Guides für Inklusion, die eher als Handreichungen für den einzelnen Lehrer/-in gedacht sind und als solche Anregungen geben, wie die eigenen SchülerInnen konkret im Sinne der Inklusion betreut werden könnten.




Samstag, 8. Oktober 2016

Der Raum ist die Lösung!

Panopticon
Wenn man Inklusion in Schule konsequent zu Ende denkt, dann ist sie nur möglich, wenn man die Schule als Raum radikal hinterfragt. Das fängt bei der Barrierefreiheit an und hört bei der Sitzordnung noch lange nicht auf. 
Den Raum als 3. Pädagogen gilt es zu entdecken. In seinen vielfältigen Möglichkeiten, seinen Chancen, seiner geheimnisvollen Kraft, Dinge so oder ganz anders zu leiten. 

Laut Günther Anders ist Raum eine Grundform der Behinderung. Michel Foucault setzt den gesellschaftlichen Raum mit einem lebenden Tableau gleich, er ist ihm zufolge sowohl Machttechnik als auch Wissensverfahren. Doch was geht uns das an?
Es bedeutet für uns Pädagogen Entscheidendes, nämlich, dass Raum so viel mehr ist, als ein bloßer Behälter von Stühlen, Tischen, Schränken, Tafeln, Kleiderhaken usw. 
Aus der Geografie kenne ich vier Konzepte Raum zu begreifen. Jedes dieser Konzept kann meines Erachtens auch auf Schulräume angewandt werden. Dabei werden seitens der Räume an uns PädagogenInnen stets völlig neue Fragen herangetragen. Das macht das Denken in diesen Konzepten so interessant.

1. Der Raum als Behälter
Beim Raum als Behälter geht man davon auf, dass der Raum unabhängig von den materiellen Körpern besteht. Er dient quasi als Plattform für Gegenstände und Prozesse. Als PädagogInnen ließen sich folgende Fragen exemplarisch ableiten:
  • Welche Prozesse finde ich pädagogisch wünschenswert (Gruppenarbeit, Präsentationen)?
  • Welche Gegenstände benötige ich, um die gewünschten Prozesse zu fördern (verschiebbare Tische, Smartboards)?

2. Der Raum als Relation (Distanz-Relations-Modell)
Dieses Konzept begreift Raum nicht mehr als etwas Absolutes. Raum ist vielmehr ein System von Lagebeziehungen materieller Objekte, welches gesellschaftliche Wirklichkeit schafft. Fragen ließe sich beispielsweise:
  • Wie sollen die Interaktionen in diesem Raum aussehen (Welche Rolle des Lehrers ist wünschenswert - klassischer Lehrer oder eher Lernbegleiter)?
  • Wie muss ich die Gegenstände zueinander anordnen (Ordnung der Dinge), um die gewünschten Interaktionen zu ermöglichen (klassischer Lehrer = Lehrertisch zentral, vor der gesamten Klasse oder Lernbegleiter = Lehrertisch an der Seite verschwindend)?

3. Der Raum als Ergebnis von Wahrnehmung
Dieses Konzept denkt den Raum nicht mehr physikalisch, sondern subjektzentriert. Es gibt nicht mehr den Raum, die Wirklichkeit, sondern Räume sind wahrnehmungsabhängig. Unsere Wahrnehmung aber, ist an unsere Erwartungen (auch Wissen und Vorerfahrungen) geknüpft und andersherum. Das bedeutet auch, dass die menschliche Handlung je nachdem ausfällt, ob den Erwartungen an den Raum ent- oder widersprochen wird. Folgende beispielhaften Fragen wären in diesem Kontext sinnvoll:
  • Welche Erwartungen haben die SchülerInnen an den Raum, um ihre Ziele verfolgen und ihren Bedürfnissen gerecht werden zu können (Angstfreies Klima, sehr individuelle Ziele und Bedürfnisse)?
  • Wie kann ich die SchülerInnen in die Raumgestaltung einbeziehen (Partizipation), damit ihre individuelle Raumwahrnehmung ihre Lernprozesse positiv beeinflusst (individuell gestaltete Rückzugsmöglichkeiten)?
Die Notwendigkeit der Einbeziehung der SchülerInnen wird deutlich, wenn man als LehrerIn einmal den Versuch starten möchte, eine Antwort darauf zu finden, welche Erwartungen an einen Klassenraum ein Schüler mit Autismus, eine Schülerin aus gewalttätigem Elternhaus oder ein gehbehindertes Kind hat. Können wir diese Frage besser beantworten als die betreffenden Kinder selbst?

4. Raum als Element der Kommunikation und Handlung
Dieses Konzept geht davon aus, dass Räume erst durch soziales Handeln von Subjekten entstehen.   Diese beziehen mit ihrem alltäglichen Handeln die Welt einerseits auf sich, andererseits gestalten sie diese mit ihren Handlungen auch materiell und symbolisch.
Eine diesbezügliche Denkaufgabe könnte helfen, dass Konzept zu verstehen: Welche Angsträume in Schule gibt es für ein Mobbingopfer? Die schlecht einzusehende Ecke im Hof, der Schulweg, der Klassenraum, die Umkleidekabine der Sporthalle. Diese "Räume" konstituieren sich als Räume für das Opfer nicht als Behälter, nicht durch Lagerelationen und auch nicht vordergründig (wenngleich nicht zu wenig) durch die eigenen Wahrnehmung, sondern zu aller erst durch die verschiedenen, soziale Interaktionen zwischen Tätern und Opfer. Fragen könnten demzufolge exemplarisch wie folgt lauten:
  • Welches soziale Klima soll an unserer Schule herrschen?
  • Was ist zu unternehmen, damit die SchülerInnen die gewünschten sozialen Handlungen erlernen (soziales Lernen)?
Die Frage an den Raum ist letztlich zu einer Frage an die Handlung geworden. Das ist spannend!


Heinrich-von-Stephan-Schule

Lernen von den Besten

Gestern hatte ich das Glück an der Heinrich-von-Stephan-Schule hospitieren zu dürfen. Wer wissen möchte, was man aus einer ehemaligen Durchschnittsschule ohne Zauberei, dafür aber mit Engagement, Beharrlichkeit, konzeptioneller Arbeit, Kreativität sowie dem Willen zur Veränderung im Sinne der SchülerInnen alles machen kann, der gehe hin und staune. 
Klassenräume ohne ein Vorne oder ein Hinten, ohne Lehrertisch und ohne Zentrum. 90 Minuten Unterricht mit ständig wechselnden Sozialverbänden (Gruppen-, Einzel-, Plenums-, Partnerarbeit) und Fächer, die sich auflösen, um in Projekten zu verschmelzen. Darüber hinaus SchülerInnen, die in Eigenverantwortung ihr Lernen übernehmen. Und vieles, vieles mehr.

Nach der Hospitation - mich inspiriert und glücklich fühlend vor lauter Anregungen - fiel es mir wie Schuppen von den Augen:  ES IST ALLES SCHON DA! 
Das war meine Erkenntnis des Tages. Es ist alles schon da! Und auch wenn wir LehrerInnen dazu neigen, das Rad immer wieder neu erfinden zu wollen, es bleibt dabei: Es ist alles schon da! 

www.blickueberdenzaun.de
Wir sollten demnach alle ausschwärmen. Mit Zettel, Stift und offenen Augen. Wir sollten Netzwerke spinnen und Formeln des Erfolges teilen. Es gilt, den Blick über den Zaun zu riskieren. Es gilt sich gegenseitig zu besuchen, offen, neugierig, voll Zuversicht.
Wer dies möchte, der kann sich natürlich zu aller erst mit den KollegInnen der Heinrich-von-Stephan-Schule in Verbindung setzen. Es gibt aber auch die Möglichkeit einem bereits bestehenden Netzwerk reformpädagogischer Schulen beizutreten, welches u.a. gegenseitiges Hospitieren deutschlandweit organisiert. Es handelt sich hierbei um den Verbund: "Blick über den Zaun". Denn, wie gesagt, es ist alles schon da. ;)



Dienstag, 4. Oktober 2016

Erklärvideo Exklusion

Das nachfolgende Video ist vielleicht ein bisschen weit gefasst, pendelt vielleicht nicht nah genug um den Bereich der Bildung, dem sich dieser Blog vordergründig widmen möchte. Dennoch, man schaue es sich bloß einmal mit den Gedanken bei all den Kevins, Jasons, Cindys oder Alis, Mohameds und Fatmas an. Exklusion. Vielleicht auch ein Problem in Schule? 



Erklärvideo Inklusion

In diesem Video wird u.a. noch einmal der Unterschied zwischen Integration und Inklusion verdeutlicht.



Sonntag, 2. Oktober 2016

Verhaltensauffällige Schüler - und nun?

Jede Schule kennt sie. Die SchülerInnen, die einen ratlos machen, für die die Schule schlichtweg nicht gemacht zu sein scheint. Die sich entziehen wo sie nur können, die nach völlig eigenen Regeln durch das Schulgebäude wabern, diffus, manchmal gewalttätig und laut. Die oftmals in ihrem Kiez schon eine Nummer sind, polizeilich erfasst. Diese SchülerInnen hinterlassen meist bei allen Beteiligten ein großes Aufatmen, wenn sie vollends schuldistanziert geworden sind bzw. dauerhaft suspendiert wurden. 
Doch wem ist damit wirklich geholfen? Die Schule muss sich eingestehen, kein Konzept, keine Mittel gefunden zu haben, um diese SchülerInnen sinnvoll einzubinden, zu in-kludieren. Und die SchülerInnen selbst, welchem Werdegang steuern sie außerhalb der Schule zu?

Projekt Übergang: Die fünf Lernzugänge 
Frau Prof. Dr. Ulrike Becker hat diesbezüglich ein Konzept entwickelt, welches sie wissenschaftlich begleitet und unserer Weiterbildungsgruppe vorstellte. Ihre Einführungsworte fand ich bemerkenswert. Sie lauteten ungefähr wie folgt: 
Inklusion, als Anerkennung und Akzeptanz aller SchülerInnen, muss sich auch bzw. gerade in Konfliktsituationen zeigen. 
Der Begriff zeigt damit starke Parallelen zum Begriff der Toleranz. Und mit der ist es ja bekanntlich auch immer dann weit her, wenn die Meinungsverschiedenheiten am größten sind.

Das Konzept von Frau Prof. Dr. Ulrike Becker firmiert unter dem Namen "Projekt Übergang"
Da es sich im Wesentlichen hier nachlesen lässt, möchte ich nachfolgend nur ergänzende Punkte zum Vortrag dokumentieren.

A) Zum "Projekt Übergang"
  • das Konzept ist nur bis zur 8. Klasse sinnvoll, da danach der Einfluss der Eltern und der Jugendhilfe auf Jugendliche schwindet; ab 9. Klasse eher Duales Lernen förderlich, um SchülerInnen einzubinden
  • Lehrer, die die "Übergangsklassen" betreuen sollten dafür mit 14-16 Ermäßigungsstunden eingeplant werden (zusammen mit Schulleitung und -aufsicht zu klären)
  • die temporären Lerngruppen sollten nach Möglichkeit 3./4. Stunde liegen (LehrerInnen in 1./2. Stunde dann nachsichtiger, da bald Entlastung)
  • in den Übergangsklassen darf jedes Kind 1xWoche einen Gastschüler mitbringen (soziale Integration; belebende Impulse; versus Stigmatisierung)
  • Arbeit am eigenen Thema (in den "Übergangsklassen") sollte nach Möglichkeit später im Klassenverband präsentiert werden (Wertschätzung); Werkbänke für eigene Arbeiten vorteilhaft; keine Ausflüge etc., da Übergangsklassen keine Highlight-Feierstunden sein sollen
  • Schülerbüros dürfen von SchülerIn selbst gestaltet werden, zudem dient es als Rückzugs- und Konzentrationsort; deshalb sollte auch SchülerIn bestimmen dürfen, wer wann eintreten darf
  • Lehrerberatung 1xWoche, Austausch aller Pädagogen mit LehrerInnen der "Übergangsklasse"
  • regelmäßige Elternberatung ist wirksamstes aller Instrumente (notfalls Hausbesuche; Schweigepflicht verdeutlichen wo nötig)
  • regelmäßiger, kooperativer Austausch zwischen Jugendamt und Schule soll Wirbelsturmeffekt nach Zieberth verhindern (Spannungen zwischen den Unterstützern wendet den Blick vom Kind ab, dass im Auge des Orkans steht) 
  • Ganztagsbetreuung erstrebenswert inklusive Essensversorgung, da derart schulinduzierte Spannungen zu Hause minimiert werden
  • vorhergehende Einrichtungen mit einbeziehen und in Schulhilfekonferenz vorher alle auf "Projekt Übergang" einschwören

B) (Be)Deutung der störenden Verhaltensweisen
  • Verhaltensstörungen dienen der Reduktion von Ängsten, stehen im Dienste der Abwehr und sind Antworten auf soziale Lebenslage des Schülers/ der Schülerin. 
  • Ängste lassen sich bei allen Beteiligten (Eltern, Kind, PädagogInnen) reduzieren durch feste Strukturen und haltgebende Beziehungen (siehe Projekt Übergang)
  • Was LehrerInnen seitens der beschriebenen SchülerInnen als Provokationen erleben, sind also Verhaltensweisen, die diese SchülerInnen von zu Hause in die Schule tragen. Warum? Weil diese Verhaltensweisen zu Hause erfolgversprechend sind. 
  • Oftmals erreichen die SchülerInnen mit ihrem Verhalten, dass die LehrerInnen ähnlich wie die Eltern zu Hause schwingen. Die LehrerInnen werden aggressiv. Häusliche Konflikte werden in die Schule projiziert.
In Bezug auf die letzten beiden Punkten verwies Frau Prof. Dr. Ulrike Becker auf einen Herrn Ziebarth. Ich selbst habe ihn bereits aus einer schulinternen Fortbildung kennengelernt und kann ihn nur weiterempfehlen. Steckenpferd von Herrn Ziebarth ist es, diese Projektionsprozesse durch Systemaufstellungen aufzuzeigen, erfahr- und verstehbar zu machen, um von hier aus Lösungsansätze entwickeln zu können. 


C) Weitere Hilfsstellen und Handreichungen

Abschließend der Hinweis, dass man es vielleicht auch versuchen könnte, sich direkt an Prof. Dr. Ulrike Becker bzw. ihre Schule zu wenden.
Zudem noch zwei Links zu weiteren themennahen Artikeln von Prof. Dr. Ulrike Becker:

Samstag, 1. Oktober 2016

Lernnetzwerke statt traditioneller Lehrerfortbildung

Wer ist eigentlich der Leiter unserer Weiterbildung und wofür steht er?
Diese Frage habe ich mir heute gestellt und ein wenig gegoogelt. Gelandet bin ich bei einem Artikel aus dem Tagesspiegel, in dem mir Herr Prof. Dr. Ramseger einen interessanten Impuls liefert über Lehrerbildung neu nachzudenken.

In dem Artikel heißt es u.a.:
"Was würde eine Zwangsberieselung schon helfen? Wir wissen seit langem, dass die traditionellen Formen der Lehrerfortbildung relativ wirkungslos sind. Die Teilnehmer erinnern sich bald kaum noch an das, was sie an einem einzelnen Wochenendseminar mal gehört haben, und landen schnell wieder im Alltagstrott. Erfolgversprechender sind Programme, die die Lehrer selbst für ihre Zwecke mitentwickeln, wie die Robert-Bosch-, die Telekom- und andere Stiftungen sie fördern. Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten dort in Gruppen über einen längeren Zeitraum an ihrem Projekt zusammen und bilden Lernnetzwerke mit ihren Nachbarschulen. So werden Schulen zu lernenden Systemen. Anstatt Zwangsfortbildungen zu organisieren, sollte man den Schulen lieber einen eigenen Fortbildungsetat geben, um etwas in Bewegung zu setzen, – und die Pflicht, ihn für Veränderungen an der Schule auszugeben."


Anbei die angesprochenen sowie weitere Stiftungen zum Anklicken.

Robert-Bosch-Stiftung



Telekom-Stiftung

















Bertelsmann-Stiftung



Vergangenheit und Zukunft?

Vergangenheit.

Zukunft?


Eine mögliche Vision.


Personalisiertes Lernen

Diese Woche wurde uns auf methodisch interessante Weise ein Buch nahegelegt, welches sehr verheißungsvoll zu sein scheint, wenn es um die Frage des personalisierten Lernens geht. 
Erste Einblicke in das Buch erhält man, wenn man auf das nachfolgende Bild klickt.

HEP-Verlag

In der Buchbeschreibung heißt es: 
"Dieses Buch ist deshalb ein Buch zum Nachdenken: Denn wer als Lehrerin oder Lehrer über seine Arbeit nachdenkt, muss über Aufgaben nachdenken. Wer über Aufgaben nachdenkt, muss über Lernen nachdenken. Und wer über Lernen nachdenkt, muss über Schule nachdenken. Es ist aber auch ein Buch zum Handeln: Denn erstens kommt es anders und zweitens wenn man (nach)denkt. Auf der Ebene des alltagspraktischen Handelns wird die Frage aufgenommen, was Lernaufgaben zu »guten« Aufgaben macht. Damit verbunden ist eine komplett andere und in vielen Teilen auch neue Sicht auf »Aufgaben« als Werkzeuge zur Aktivierung von Lernprozessen. Wirkungsstarke Lernaufgaben werden in prototypischen Formaten und Beispielen vorgestellt. Doch jedes Lernverhalten ist abhängig vom Kontext, in dem es stattfindet. Deshalb gilt auch für Lernaufgaben: Wie man sie einbettet, so liegen sie einem."

Die Macher des Buches sind übrigens eng verknüpft mit dem Beatenberg-Institut in der Schweiz. Ein Blick auf die entsprechende Homepage verspricht weitere Denkimpulse: www.institut-beatenberg.ch.


Mehr Diagnostik, nein danke!

Augenmerkkind. Das war ein Schwerpunkt der vorletzten Sitzung. 
Hierbei schlich sich folgender Gedanke bei mir ein: Was, wenn nicht nur wir Lehrer Augenmerkkinder haben, sondern auch die Gesellschaft Augenmerkkinder hat? Mit Wocken gesprochen könnte man sagen, dass die „Risikokinder“ in den Fokus der Gesellschaft gerückt sind. Was bedeutet das konkret?

Wocken stellt in seiner Untersuchung fest, dass – trotz steigender Inklusionsquote – keine echte Inklusion stattfindet.
Zwar steigt die Anzahl der SchülerInnen mit Förderbedarf an den Regelschulen (steigende Inklusionsquote), demgegenüber ist die Zahl der SchülerInnen an den Sonderschule aber weitestgehend konstant geblieben (gleichbleibende Seperationsquote). Das bedeutet, dass der relative Anteil der SchülerInnen mit Förderbedarf an der Gesamtheit aller SchülerInnen gestiegen ist. Rückschluss: RisikoschülerInnen werden mit Etikettierungen überschwemmt. Inklusion, verstanden als Würdigung des Indivuduums/ des Individuellens ist es demnach nicht – eher das Gegenteil.
In meiner letzten Hausaufgabe habe ich der Pädagogik, die sich die Inklusion auf die Fahnen schreibt, folgende selbstvergewissernde Frage in den Mund gelegt: „Das eine Pädagogik, die auf Inklusion – also der individuellen Differenz als Chance – setzt, sich vielleicht auch die Frage stellen sollte, in welche Richtung sie tendiert: Ein Mehr an Diagnostik oder ein Mehr an Individualität?“ Es scheint, als liefe es auf ein Mehr an Diagnostik hinaus. Der diagnostische Blick aber ist kalt, zielt auf Verallgemeinerung, auf Ausrichtung an der Norm, auf ein Handhabbarwerden des Diagnostizierten hin. Es fiel diesbezüglich der Begriff der positiven Diskriminierung. Diese ist und bleibt was sie ist: Diskriminierung. Als solche ist sie in Bezug auf das diskriminierte Individuum beschneidend, einengend, verkürzend, gewalt-ig. 
Hans Wocken verweist auf die absurde Vorstellung, dass durch Inklusion die Normalitätstoleranz verengt werden könnte. Meines Erachtens würde dies nichts anderes widerspiegeln  als die gesteigerte Angst unserer Gesellschaft vor dem Individuellen, vor der Andersartigkeit. 

Flüchtlingskrise, Terrorangst, Islamophobie, Etikettierungsschwemme von Risikoschülern – vielleicht bilden sie ein und dieselbe Linie? Vielleicht ist es kein Zufall, dass unsere Gesellschaft Schüler des Risikos genau jetzt in Augenmerk nimmt.


Zeit für einen Perspektivwechsel!

Liebes Lerntagebuch,

die heutige Aufgabe fand ich unverhofft großartig! Ich habe das Gefühl, dass ich durch sie mein erstes Inklusions-Instrument an die Hand bekommen habe, also ein Instrument, dass es mir ermöglicht, Inklusion erfolgreich an meiner Schule durchführen zu können. Das Instrument erscheint mir so einfach wie effizient. Es hat so gar nichts mit großer Zauberei zu tun, was ich sehr ermutigend finde. Eigentlich ist es sogar absolut naheliegend, drängt sich förmlich auf. Dass ich es als Pädagoge bisher so selten (bewusst) eingesetzt habe, beschämt mich fast ein bisschen. Das Instrument war in ihrer Aufgabe impliziert und heißt: Perspektivwechsel.

Kippbild von Octavio Ocampo
Wie wunderbar erhellend es sich anfühlte, sich mit Muße, Zeit und in vollem Bewusstsein, die Welt durch die Augen einer Augenmerk-Schülerin vorzustellen (so lautete im Groben die Aufgabe). Dabei ein Gefühl dafür zu bekommen, was diese Schülerin sucht und braucht und – auch im Umkehrschluss – was sie verlöre, wenn sich die Situation anders gestalten täte. 
Die Konfliktsituation meines Augenmerkkindes hat etwas mit seiner Behinderung zu tun. Monica (Name geändert) ist gehbehindert und wir hatten zusammen Sportunterricht. Bei einem von mir initiierten Fangespiel spielte sie mit anfänglich großer Bereitschaft mit, wirkte aber zunehmend verlorener, wurde sie von Ihren MitschülerInnen doch absolut nicht ernsthaft berücksichtigt. Ein einziges Mal wurde sie angeschlagen. Es fühlte sich irgendwie mitleidig motiviert an. Genauso mitleidig motiviert erbarmte sich ein Mitschüler und ließ sich von Monica als Fängerin abschlagen. Ich brach das Spiel ab und führte eine Regeländerung ein: Am Hallenende wurde eine Ecke per Bank abgetrennt und von dort aus sollte Monica die anderen SchülerInnen abwerfen dürfen. Den geworfenen Ball sollte sie immer wieder zurückgebracht bekommen und zwar von einer Schülerin, die bis dahin ebenfalls völlig unbeteiligt im Spielfeld verweilte, Hannah (Name geändert), eine Schülerin mit geistiger Behinderung. 
Es funktionierte wunderbar! Und es fühlte sich so toll an Monica und Hannah zu beobachten. Beide waren aktiv, mittendrin und insbesondere Monica entwickelte riesigen Ehrgeiz. Jedes Mal, wenn sie jemanden abwarf – was ihr schwer fiel – freute sie sich ungemein. Und die anderen SchülerInnen, für sie war Monica eine richtig ernst zu nehmende Gefahr geworden. Das Spiel hatte sich in seiner Attraktivität sogar gesteigert. Plötzlich musste man sich vor den Fängern in Acht nehmen und vor Monica. 
Natürlich sehe ich jetzt – mit etwas Abstand – weitere Verbesserungsmöglichkeiten. Man könnte Regeländerung zusammen mit den SchülerInnen entwickeln und auch Hannah hätte Bälle werfen können. Dennoch, wenn ich die Perspektive von Monica einnehme, kommen mir lauter Worte in den Sinn, die einfach wunderbar sind. Ich glaube Monica hat sich anerkannt, gesehen, respektiert, integriert, unterstützt, angenommen, bestätigt, bestärkt, normal, stark, im Einklang mit dem Stundengeschehen, motiviert und glücklich gefühlt. 

Letzte Sportstunde habe ich leider nicht reagiert und Monica ihrerseits reagierte unglaublich traurig und wütend. Fühlte sie sich nicht anerkannt, nicht gesehen, nicht respektiert, nicht integriert, nicht unterstützt, nicht angenommen, nicht bestätigt, nicht bestärkt, unnormal, schwach, als Fremdkörper im Stundengeschehen? Sehr wahrscheinlich JA. Für mich ein riesen Impuls, diese Schülerin in meiner Unterrichtsplanung weiterhin im Augenmerk zu behalten. Danke, Perspektivwechsel!


Und die Flüchtlingskinder?

Irakische Flüchtlingskinder - UNICEF
Ein Kollege aus meiner Schule ist maßgeblich in den Willkommensklassen unserer Schule eingesetzt. Das sind die Klassen mit den Flüchtlingskindern. Er suchte das Gespräch und erzählte mir von all den Schwierigkeiten, die ihn belasten.
Willkommensklassen setzen LehrerInnen vor große Herausforderungen - sprachlich (viele der Jugendlichen sprechen kaum Deutsch, manche zusätzlich kein Englisch), auf der Beziehungsebene (es herrscht zum Teil hohe Fluktuation in den Willkommensklassen), sozial (manche Flüchtlingskinder sind ohne ihre Eltern in Berlin angekommen), psychologisch (Stichwort: traumatisierte Kinder).
Erschreckend aber war, dass der Kollege sich als ohnmächtiger Einzelkämpfer erkennen musste. Noch erschreckender, dass ich mich für die Flüchtlingskinder an unserer Schule überhaupt nicht als mit zuständig verstand. Ich bin Klassenlehrer einer (Regel-)Klasse. Damit hatte sich es für mich
Ich glaube wie ich fühlen viele an unserer Schule. Ich nehme das an, weil die Flüchtlingskinder auf sonderbare Art und Weise an unserer Schule ex-kludiert wirken. Keine Einbindung in die AG´s. Ungenügende Berücksichtigung auf Sportfesten und -turnieren. "Inselunterricht" mit den ihnen zugeteilten LehrerInnen. Kaum bis keine Vertretung durch alle anderen LehrerInnen
Warum ist das so? 
Vielleicht, weil Schule manchmal auch eine Überlastungs- und Überforderungsmaschine für alle Beteiligten ist. Vielleicht aber auch, weil wir es bisher als Kollegium versäumt haben, uns darauf zu verständigt wie wir diese Kinder in-kludieren sollten. Denn, ob wir sie inkludieren wollen, diese Frage dürfte sich eigentlich nicht stellen. 


Freitag, 30. September 2016

Verschwendung täte gut!

In der letzten Seminareinheit hat der Vortrag von Herrn Prof. Dr. Ramseger in mir einen tiefen Wunsch hervortreten lassen. Den Wunsch nach einem Bildungssystem der Verschwendung. Von mir aus der gezielten Verschwendung, aber in jedem Falle der Verschwendung.
Selbst da, wo ich lese: „Inklusion heißt: Die Schule bekommt genügend Ressourcen, um alle Kinder optimal zu fördern, und braucht nicht einzelne Kinder als ´behindert´ zu etikettieren, um Ressourcen zu erhalten.“ zeigt sich das, was unser jetziges Bildungssystem vor allem kennzeichnet: Begrenzung. „Genügend Ressourcen“. Darin lese ich vor allem Wörter wie „genug“, „genügen“ und im weitesten Sinne „begnügen“. Also Grenze, Verzicht, Zufriedengeben, in befriedigendem Maße erfüllend. Es schmeckt ein wenig nach den bildungspolitisch gerne verwendeten Begriffen wie Grundausstattung und Zumessungsrichtlinien. Aber das ist weit weg von dem, was ich als Pädagoge möchte und als gut erachte.
Schule beschäftigt sich immer wieder mit Segregation/Auslese, mit Diagnostik/Status und immer wieder der Frage nach den Ressourcen. Für mich ergeben sie einen logischen Dreiklang, eine Einheit: Diagnostik-Auslese-Ressourcen. Sie sind für mich alle Teil ein- und desselben Problems. Egal wo man kritisch anfängt zu fragen, Inklusion scheint mir nur fern dieses Dreigestirns möglich. An Aktualität aber scheint dieses Dreigestirn nichts eingebüßt zu haben. Im Gegenteil.
  • Die Zahl der Kinder mit diagnostischem Förderbedarf steigt seit Jahren.
  • Die Integrationsquote in Deutschland liegt 2005 bei 13%.
  • Fördern und Auslesen bilden einen institutionellen Widerspruch.
  • In Deutschland gibt es den Förderbedarf Lernen, in Schweden nicht.
Diagnostik. Auslese. Ressource. Das alles erinnert mich auch an „Sexualität und Strafen“ von Foucault. Sie legen mir das Gefühl in den Bauch, als ob es in unserem Schulsytem vor allen anderen Dingen um das Ordnen, Verteilen, Strukturieren, Begrenzen, Ökonomisieren und Zugänglichmachen der Individuen geht. Ein System muss das sicherlich auch. Und Bildung hat bei uns ja System. Vielleicht aber sollte ein Bildungssystem, das Inklusion fokussiert – dass also Entgrenzt, Öffnet, Durchmischt – eben gerade deswegen weniger System und mehr Milieu sein. Dann wären wir Teil eines Bildungsmilieus. Macht das Sinn? 
Wenig Sinn macht für mich in jedem Fall die bisherige Ausrichtung unseres Bildungssytems nach vordergründig ökonomischen Gesichtspunkten und das gleichzeitige Wollen von Inklusion. Ökonomisierung der Zeit. Zeitökonomie. 45 Minuten. 90 Minuten. Abi nach der 12. Klasse, Einschulung mit 5. Es herrscht ein permanenter Leistungsdruck. Und permanent meint immer. Leistung und Zeit gehen hier also Hand in Hand. Das System verlangt die ständige Leistung. Und das stimmt für Schule ja tatsächlich. Jede Stunde Notendruck. Alle drei Wochen spätestens eine Leistungsüberprüfung. Ein Vergleichen, ein Ausrichten, ein Ordnen. Es verwundert mich nicht, dass eintritt, was schulübergreifend so oft zu beobachten ist: Kinder kommen lernfreudig in die Schule und sind nach wenigen Wochen absolut schulmüde.

Abschließend eine Geschichte...
Die Geschichte handelt von einem König. Er gibt einem seiner Diener den Auftrag sein Land zu kartieren, damit er es besser beherrschen und bestellen könne. Der Diener tut wie ihm geheißen. Der König aber ist unzufrieden und verlangt eine genauere Karte. Der Diener holt weitere Diener und zusammen machen sie sich an die Arbeit. Nach Wochen legen sie dem König eine riesige Karte vor. Wiederum ist der König unzufrieden. Erneut machen sich die Diener an die Arbeit. Erst als jeder noch so kleine Stein kartiert ist, gibt sich der König zufrieden. Die Diener rollen die Karte aus. Sie liegt exakt 1:1 auf des Königs Land und verdeckt es komplett. Und die Moral von der Geschichte? Mann könnte antworten, die Funktion einer Karte, nämlich durch Verallgemeinerung und Verkürzung Erkenntnisse zu ermöglichen, wird ad absurdum gestellt. Der König erkennt letztlich nichts. Er sieht nur, was eh da ist. Er ist nicht in der Lage mit Hilfe dieser Karte sein Land besser zu beherrschen und besser zu bestellen.
Auf unser Fachgebiet angewendet könnte man sagen, Diagnostik – als Verkürzungs- und Verallgemeinerungstechnik – ist notwendig, um (bspw. Hilfsbedarfe) zu erkennen, um das Kind besser zu fördern. Aber mit Adorno und Horkheimer sei geantwortet: „Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht aber sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.“ Beide reden letztlich dem Individuum/Individuellen, dem Unteilbaren, das Wort. Was will ich sagen? Das eine Pädagogik, die auf Inklusion – also der individuellen Differenz als Chance – setzt, sich vielleicht auch die Frage stellen sollte, in welche Richtung sie tendiert: Ein Mehr an Diagnostik oder ein Mehr an Individualität? Oder anders ausgedrückt: Kann der diagnostische, d.h. der verallgemeinernde Blick auf ein Kind, unter Umständen das Individuelle verdecken und damit Inklusion zuwiderlaufen? Vielleicht hat Schweden diese Frage schon für sich beantwortet und es gibt hier deshalb keine Kategorie „Lernen“.

...und ein Bild.
Unser heutiges Bildungssystem kommt mir vor wie eine Wüste, die man bestellt. Die Mittel sind spärlich. Also geht man systematisch vor. Man ist gezwungen möglichst effizient zu arbeiten. Man sät fein säuberlich, dicht an dicht. Dass kostbare Wasser wird abgemessen und über die Zeit verteilt den Pflanzen zugeteilt. Die Pflanzen die man erntet stehen schließlich in Reih und Glied. Sie sind bis auf wenige Ausnahmen ähnlich groß. Nach der Ernte werden sie auf dem internationalem Markt verkauft. Das Bildungssystem was ich mir wünsche ist ein Bildungssystem des Tropischen Regenwalds. Das Wasser läuft verschwenderisch über die Pflanzen hinweg, welche in alle Himmelsrichtungen sprießen. Es gibt große und kleine, riesige und winzige Pflanzen. Alles grünt. Das Auge findet vor lauter Üppigkeit der Vegetation keinen Halt.„Inklusion heißt: Die Schule bekommt genügend Ressourcen, um alle Kinder optimal zu fördern, und braucht nicht einzelne Kinder als ´behindert´ zu etikettieren, um Ressourcen zu erhalten.“ Was tät sich alles ändern, wenn man statt genügend Ressourcen, jegliche Ressourcen zugesprochen bekäme? Was wäre, wenn der Ökonomisierung die Verschwendung gegenüber gestellt werden würde? Diese unvernünftige Ineffizienz? Dieses wunderbar Unnötige? Dieses maßlos Große? Diese Buntheit der Dinge? Diese Vielfalt der Möglichkeiten? Dieses kreative Milieu? Diese reiche Betreuung? Würden Schüler und Lehrer nach 6 Wochen Schule immer noch innerlich das Handtuch schmeißen?

Bildquelle:   www.meta-evolutions.de





Donnerstag, 29. September 2016

Möge die Reise beginnen!

Ich bin Lehrer. Alle vier Jahre bekomme ich eine neue 7. Klasse und alle vier Jahre gebe ich eine, nein, meine 10. Klasse ab. Vier Jahre Beziehungsarbeit, vier Jahre gemeinsames Lernen, Leiden, Lachen, Erleben.
Zu jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin könnte ich mindestens eine Handvoll Anekdoten erzählen, ich könnte mit Freude davon berichten, wie jede/r einzelne von ihnen sich in entwickelt hat. Beim Abschied fühle ich meist eine Mischung aus Traurigkeit, Stolz, Wohlwollen und Nähe. Es fühlt sich schön an, die Kinder auf den Weg zum Erwachsenwerden begleitet zu haben, Teil ihrer Bildung im weitesten Sinne gewesen zu sein. Doch dann, immer wieder, beschleicht mich ein Gefühl der Unruhe. Bin ich all meinen SchülernInnen im Rahmen der Möglichkeiten, die Schule bieten kann, gerecht geworden?
Alle vier Jahre ist die Antwort die gleiche: die SchülerInnen mit Förderbedarf habe ich am wenigsten gesehen, am wenigsten bedacht, am wenigsten professionelle Unterstützung zukommen lassen. Zumindest fühlt sich das so an. Tatsächlich wurden diese SchülerInnen von mir oftmals auch nur betreut und beschäftigt. Unsystematisch. Aus dem Bauch und der Not heraus. Ein Wortsuchrätsel hier, ein Mandala da, Satzteile zusammenfügen, Wörter verbinden. Mir ist das zu wenig. Mir bin ich als ihr Pädagoge zu wenig. Und mit ICH meine ich tatsächlich mich. Es ist kein Schulproblem. Es ist mein Problem. Es ist mein Problem, dass mir 25 SchülerInnen einbrocken, mit ihren wilden, bunten Individualitäten.
Differenziere ich in meinem Unterricht für sie? Oh ja! Differenziere ich für jeden Einzelnen? Unmöglich! Mein Differenzieren ist also notgedrungen ein Differenzieren von der Mitte aus. Vom Durchschnitt. Das Gros der Klasse pendelt darum und fühlt sich deshalb in meinem Unterricht weitestgehend gut aufgehoben. Dann ist da noch die Spitze, sie wird ebenfalls in der Planung und Vorbereitung bedacht und am Schluss differenziere ich noch nach unten. Doch was ist mit denen, die Ihre eigenen Kreise ziehen? SchülerInnen mit Downsyndrom, Autismus und "Förderbedarf geistige Entwicklung"? Sie fühlen sich für mich als planender Lehrer so ex-klusiv an. Ich aber muss nicht nur, ich will die In-klusion!

Das schöne an vier Jahren Beziehung ist, dass man Verantwortung trägt und gestalten kann. Und weil dem so ist, erachte ich das Problem, von dem ich hier rede, auch nicht als Schulproblem. Es schmeckt zwar ein wenig danach, aber es bleibt meins, da bin ich mir sicher. Denn, ist es nicht auch meine Aufgabe, die Schule und ihre Strukturen, wenn sie sich als problematisch erweisen, nach meinen pädagogischen Überzeugungen mit- und umzugestalten?
Was ich dazu und im Sinne der Inklusion brauche, ist Input von Menschen, die sich eine entsprechende Expertise erworben haben. Ich möchte von Inklusions-Experten lernen, von LehrerInnen und SchülerInnen, von KollegInnen und gleichfalls von Büchern und Filmen, von Fachartikeln und - so es denn hilft - meinetwegen auch von Rollenspielen und dergleichen. Ich möchte Innehalten, mit Muße (nach)denken, Hilfreiches entwickeln, Prozesse starten.
In diesem Sinne und der Hoffnung auf Erfüllung meines Ansinnens, habe ich mich für eine einjährige Weiterbildung zur Inklusion angemeldet. Begonnen hat sie am 16.09.2016.
Eine unserer Aufgaben ist, ein Lerntagebuch zu schreiben. Ich habe mich diesbezüglich für die Form eines Blogs entschieden. Er bietet mir diverse Vorteile. Zum einen bietet er mir die Möglichkeit erhaltene Anregungen vor dem Verlorengehen zu bewahren, sie stattdessen strukturiert und vertiefend wiederzugeben. Zum anderen hilft er mir dabei, mich in meinem Lernprozess ständig selbst zu verorten. Vor allem aber habe ich dieses Format gewählt, damit interessierte KollegInnen von den Perlen, die uns in der Weiterbildung zu Füßen gelegt werden, profitieren können. Im Sinne der Inklusion, die viele Unterstützer mit Herz und Verstand benötigt, um gelingen zu können.
Bleibt mir nur zu sagen:  
Möge die Reise beginnen!