In den letzten Jahren als Lehrer gab es für mich zwei Begegnungen mit Schülern, die mich meine eigene Tätigkeit tiefgehend hinterfragen ließen. Beide Male hatte ich hernach das Gefühl, dass mein Unterricht, ja womöglich Schule an sich, grundsätzlich an der Lebenswelt unserer Schüler*innen vorbeigeht.
Das erste prägende Erlebnis hatte ich während meines Referendariat.
Ich war mit einem Basketballkurs in der Sporthalle und versuchte den Schüler*innen den Standwurf nahezubringen. Anschließend sollten die Schüler*innen verschiedene Übungen selbstständig ausprobieren. Ein Schüler nutzte diese Phase jedoch immer wieder, um kleine Breakdance-Moves zu vollführen. Er machte dies mit beeindruckender Leichtigkeit. Seine Körperbeherrschung faszinierte mich. Ich ging zu dem Schüler und fragte ihn, ob er in seiner Freizeit Breakdance übe. Er bejahte dies und hieß mich willkommen, ihn doch bei einem der nächsten Wettkämpfe zu besuchen. Ich sagte zu.
Ein paar Wochen später fand ich mich vor einer großen Bühne in einem ziemlich dunklen Club ein. Der Raum war voll, alles junge Leute, viele im Alter des Schülers. Dann begann die Battle. Mit einer Selbstsicherheit, einer Athletik und Dynamik feierten beide Teams wahre Meisterwerke der Choreografie ab, so dass ich nicht umhin kam, mit offenem Mund das Treiben zu bestaunen. Tanzende Körper in Raum und Zeit. Das Menschen so etwas können können! Ich war perplex und noch in der Halle beschlich mich ein fades Gefühl. Ich erinnere mich noch ganz genau an die damit einhergehenden Gedanken. Ich begann mich zu fragen, welchen Wert mein Unterricht wohl für diesen Schüler haben mochte. Für sein Leben, seine Persönlichkeit, sein Jetzt. Ihm den Standwurf in Basketball beibringen zu wollen, erschien mir seinem körperlichen Können fast unwürdig, der Ansatz meines Unterrichts auf einmal, nun ja, popelig.
Ein zweites Erlebnis hatte ich gut 10 Jahre später.
Ein ehemaliger Schüler besuchte uns in der Schule. Ich selbst hatte ihn je fünf Stunden die Woche unterrichtet. Der Schüler war mir und einigen meiner Kolleg*innen als ziemlich theatralisch im Gedächtnis geblieben. Womöglich liebte er den großen Auftritt, vielleicht das Drama oder war schlichtweg in diese Rolle gerutscht, um so seinen Schulalltag zu bewältigen. In jedem Fall stand er nun vor mir, dem Schulkontext entwachsen. Ich fragte ihn, was er nun mache. Er erzählte mir, dass er Tontechnik studiere. Aha! Ja, er hatte auch schon während der Schulzeit viel Klavierunterricht und verfüge zudem über ein absolutes Gehör. Egal ob letzteres stimmen mag oder nicht, wie kann es sein, dass ein Schüler intensivst Klavier spielt, die Musik liebt und wir - als Lehrer*innen - davon so gut bis nichts mitbekommen? Wie kann es sein, dass Schule die Schüler*innen in ihren Fähigkeiten so schlecht abholt? Wo waren die Verknüpfungen seines Talents mit den Inhalten des Unterrichts? Vielleicht im Fach Musik. Aber wieviel und warum nur da? Und warum hatte ich davon keine Ahnung? Wäre sein Talent in projekthaftem, ganzheitlichem Unterricht mehr zur Geltung gekommen?
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Käptn Peng - Bildquelle: hier.
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Diese beiden Beispiele führen mich zu einem Künstler, den ich sehr verehre. Es handelt sich um
Robert Gwisdek alias Käptn Peng. Als ich seine Wortakrobatik und seinen philosophischen Tiefsinn zum ersten Mal in dem Song
"Sockosophie" hörte, ging es mir ähnlich wie bei der Breakdance-Battle: Wie kann ein Menschen das können?
Ich begann mich mit Gwisdek und seinem Alta Ego Käptn Peng zu beschäftigen. Ich hörte die (Lieder)texte rauf und runter. Dann las ich in den Weiten des Internets, dass
Gwisdek die Schule abgebrochen hatte, um Schauspieler zu werden. Ich weiß noch, dass ich dachte: Wie konsequent! Sicherlich hatte auch die Schule ihren Anteil daran, dass Gwisdek kann was er macht. Aber wie groß mochte dieser Anteil sein? Es schien mir in seinem Fall unbedingt so sein zu müssen, dass seine spätere Schulzeit für Gwisdek nichts als Fesseln, Schranken, Begrenzungen und Einschränkungen gewesen sein musste. Wie wäre es anders denkbar?
Ein Mensch wie er - so voller Energie, Kreativität, Explosivität, Eigensinn, Andersartigkeit, Neugierde, Experimentierfreudigkeit, Sprachgewalt, Witz, Expressivität, Sensibilität, Scharfsinn, (Selbst)Reflexion und (Selbst)Entgrenzung - wie wäre es denkbar, dass er sein Talent in den Strukturen, Rhythmen, Normen, Begrenzungen, Vorgaben, Hierarchien, Gewalten, Bewertungen und der abrechnenden Logik von Schule entfalten könne? Wäre das irgendwie denkbar?
Zeigt sich hier nicht vielmehr
ein grundlegender Widerspruch zwischen Individualität und Institution?
Es ließe sich an dieser Stelle vortrefflich darüber streiten, was Schule leisten sollte. Doch egal Anhänger welchen Ergebnisses dieser Diskussion man auch immer ist,
müssten nicht wir alle dafür plädieren, dass Schule (noch) mehr zu dem wird, wie ein (großer?) Teil ihrer Schüler*innen ist -
energetisch, kreativ, a-rhytmisch, besonders, bunt, offen, zerstreut, fragend, pulsierend, humorvoll, schmuckvoll, sensibel, emphatisch, bejahend, diskursiv, herausfordernd, gar wabernd?
In seinem Roman
"Der unsichtbare Apfel" (S. 19f.) ist Gwisdeks Hauptfigur, Igor, über folgende schulische Tatsache sehr ungehalten:
"Je länger er in die Schule ging, desto wütender wurde er auf die Zeitverschwendung, die sie darstellte. Auswendiglernen abstrakter Inhalte, Befolgen seltsamer Verhaltensregeln, nie enden wollendes Wiederholen unwesentlicher Themen. Nicht nur, dass die Schule nichts trainierte, was er brauchte, auch war sie verkrümmend und sparte das Wesentliche auf. Einmal bat er um eine Unterredung mit dem Direktor seiner Grundschule. Igor betrat sein Büro und schlug ihm vor, dass es ein Fach geben sollte, welches mit verbundenen Augen abgehalten würde. Er sagte, dass er nun schon zwei Jahre zum Unterricht komme, aber nichts finden könne, was den Tastsinn oder das Gehör trainiere. Auch sein Geruchssinn werde nicht geübt, geschweige denn die Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen."
Fantastisch! Diesen Auszug würde ich am liebsten jeder Fachkonferenz vorlegen, damit die betreffenden Lehrer*innen ihr Fach, nein, damit sie Schule lustvoll neu zu denken wagen. Verdammt nochmal, lasst uns Platz für´s Haptische und Sinnliche schaffen!
In dem Song
"Neue Freunde" ist Gwisdeks Kritik an Schule gar grundsätzlicher. Ab 00:42 heißt es hier wie folgt:
"Und beschwere mich bei Dingen, die mich schwerer machen
Als guter Schüler muss ich über meine Lehrer lachen
Wissen esssen und beflissen jeden Fehler machen
Ihr macht Stress ohne Grund (yeah!)
Stress könnt' jeder machen
(...)
Denn ihr müsst eine Lüge leben
Sie füttern, pflegen und ihr eine schöne Bühne geben
Zugegeben ich will euch die Beine von den Stühlen sägen
Mit euch auf'n Boden liegen und über Gefühle reden (yeah!)
Endlich haben wir zusammen gefunden
Liegen bleiben, ich hab eure Schnürsenkel zusammengebunden!".
Spannend. In dieser Textpassage ist viel Kritik verpackt. Für mich steht der neuralgische Punkt am Ende. Wir Lehrer*innen müssen eine "Lüge leben, sie füttern, pflegen und ihr eine Bühne geben". Wow! Das geht tief. Alles andere ließe sich wegbügeln oder gar ändern. Aber hier wird ein Zwang zur Lüge benannt, die gepflegt und präsentiert werden will. Nahezu eine Art Ur-Zwang des (heutigen) Lehrerseins, sein unumstößliches a priori.
Natürlich ist diese Textstelle stark interpretierbar. Was könnte sie bedeuten? Ich sehe vor allem folgende Lüge: Wir Lehrer*innen halten ein Schulsytem aufrecht, dass wir im Grunde genommen verachten (müssten). Denn Schule steht in Vielem im Widerspruch zu dem, was pädagogisch, lernpsychologisch und sozial wünschenswert ist. Unter hohem (zeit)ökonomischen Druck lassen wir (wider besseren Wissens) zu, dass sich Schule falsch strukturiert.
Zeit für ein Fazit. Was zeigen uns die drei genannten Beispiele?
1. Schule muss der LEBENSWELT der Schüler*innen mehr Rechnung tragen (Breakdance - Beispiel I).
Diese Erkenntnis wird jedem Referendar und jeder Referendarin gleich zu Beginn der Ausbildung ans Herz gelegt und dennoch zeigt die Realität wie wenig das stattfindet. Es reicht einfach nicht, die curricularen Vorgaben für den Unterricht mit einer Frage aus vermeintlicher Schülersicht zu verknüpfen.
Schule muss schaffen die Lebenswelten der Schüler*innen auszugsweise einzufangen. Möglich wäre das über entsprechende AGs, über das gemeinschaftliche Teilnehmen an den Freizeitaktivitäten der Schüler*innen, über
kreative und offene Aufgaben, über
Projektunterricht, über Morgenkreise, Rederunden, Diskussionsforen, Schülerzeitung, gemeinsame Unterrichtsgestaltung und -planung, u.v.m.
2. Schule muss den TALENTEN der Schüler*innen mehr Rechnung tragen (Beispiel II, verkanntes Talent).
Zu aller erst muss sie hierzu all ihre Sinne schärfen, um die Talente ihrer Schüler*innen zu erkennen und zu erfassen.
Sie muss derart Stärken-orientiert sein und eine geeignete Sensorik entwickeln. Sie sollte zunehmend mehr Fragen stellen als Antworten geben und ihre Fähigkeit Zuzuhören schulen. Sie sollte die ihr Anvertrauten mehr als Menschen und weniger als Lernkörper sehen. Dazu gehört auch, ihnen mehr echte
Verantwortung zu übergeben. Sie sollte
zudem Gefühlen etwas mehr und dem Wissen etwas weniger Platz einräumen (und zwar im Unterricht) als bisher. Und Schule sollte die Individualität ihrer Schüler*innen so betrachten, wie es der Begriff an sich verlangt - als Unteilbares.
Die ständige Relativierung durch das in Relation-Setzen zu den anderen, sollte auf ein Minimum begrenzt werden.
3. Wir Lehrer*innen müssen eine andere Form der Schule wollen sollen (Beispiel III - Käptn Peng).
Ein "Weiter wie bisher" erscheint angesichts der Ergebnisse von Schule im Vergleich zum denkbar Möglichen als nicht geboten. Vielmehr müsste sich Schule auf den Weg machen, sich stückweise zu Ent-Institutionalisieren, um Individualität Freiraum zu gewähren. Wir selbst müssten wagen, Schule mutiger, teils radikal neu zu denken - d.h. auch unseren Unterricht und die in ihm gefundene, unsere Rolle.
Wie kann Schule es schaffen die Kraft des Individuellen, des Bunten, der Vielfalt zu nutzen, sie zu Tage treten zu lassen, sie zu hegen, zu potenzieren? Mit den Strukturen, Grenzen und Begrenzungen der meisten heutigen Schulen eher weniger.
"Parantatatam, etwas möchte beginnen
Etwas - möchte von außen nach innen
Etwas - möchte von innen nach außen
Etwas will sich mit Etwassen austauschen
Denn - etwas ist erwacht
Etwas - hat jetzt lang genug im Dunkeln verbracht
Etwas - hier drin will zerspringen und zerfetzen
Etwas steht jetzt auf und wird sich nie wieder setzen!"
Hoffen wir mal, dass Schule nicht das Dunkel ist, was Peng hier besingt. Hoffen wir, dass Schule sich in Zukunft zum Besseren wandeln möge. Parantatatam!