In einem Leserkommentar zu meinem Post "Noten? Bitte frühestens ab Klasse 9. (Teil I)" sowie dem auf Spiegel Online erschienenen Artikel "So könnte guter Unterricht gehen" wird Kritik an meiner Position gegen Noten geübt sowie für das Festhalten an Noten plädiert.
Ich nehme diese Kritik ernst und möchte mich ihr stellen.
Vorweg möchte ich jedoch Prof. Jörg Ramseger von der FU zu Wort kommen lassen. In seinem Interviewbeitrag in der Märkischen Allgemeine führt er von mir z.T. unberücksichtigte, gleichwohl geteilte Argumente für ein so spät wie mögliches Verwenden von Noten an.
Das System der Notenbeurteilung tut/ist seiner wissenschaftlich fundierten Meinung nach Folgendes. Es..:
- ....beschädigt und entmutigt die, die es schwerer haben zu lernen.
- ...ist Defizit-, statt Erfolgsorientiert.
- ...führt zu Unterrichtsstörungen ("Störenfried").
- ...ruiniert das Interesse an Inhalten, indem es das Ergebnis vor den Inhalt stellt.
- ...ist damit die Ursache fehlender Motivation.
- ...personalisiert das eigene Versagen, d.h. führt zu negativen Selbstbildnissen und -zuschreibungen.
- ...suggeriert Präzision und Vergleichbarkeit, die es nicht bietet.
- ...ist ungerecht, da es weder biologische Entwicklungsdifferenzen, noch die unterschiedlichen Lebensverhältnisse oder die Seite des Lehrenden berücksichtigt.
Prof. Ramseger legt diese Punkte in besagtem Interview etwas ausführlicher dar. Es lässt sich HIER nachlesen.
Nun zum Leserkommentar, der unten oder bei entsprechendem Post komplett einsehbar ist.
Er konfrontiert mit folgenden Thesen.
- Die Verwendung von Noten weist auf ihren tieferen Zweck hin.
- Das Weglassen von Noten führt zwangsläufig zu schlechterem Lernerfolg.
- Eltern verlangen Noten, um den Lernstand ihres Kindes zu erfahren.
- Kinder lernen der Noten halber, nicht zum Selbstzweck.
- Die SchülerInnen sollten mit ihrem tatsächlichen Wert für die Arbeitswelt beizeiten konfrontiert werden.
zu These 1: Die Verwendung von Noten weist auf ihren tieferen Zweck hin.
"Lieber Herr Krüger,
es liest sich ein bisschen so, als seien Noten als Sanktion gedacht, als haben sie keinen tieferen Zweck. Sie haben aber einen Zweck, sonst würden Sie ja selber nicht in späteren Jahren ("ab Klasse 9") wieder damit arbeiten wollen."
In meinem ersten Post zu dem Thema verweise ich diesbezüglich auf Disziplinierung & Selektion. Prof. Ramseger weist in eine ähnliche Richtung, indem er Erzeugung eines Wettbewerbs sowie einer einhergehender Rangskala als Funktion der Noten anspricht.
Dass ich ab Klasse 9 wieder mit Noten arbeiten "möchte", hat jedoch nichts damit zu tun, dass ich an ihren "tieferen" Zweck glaube.
Tieferer Zweck? Das klingt ein wenig nach guter Zweck. Was könnte das in diesem Sinne sein? Dass Noten eine Belohnung darstellen? Aber für wen und wie oft und v.a. wie oft auch das Gegenteil? Dass sie - mehr oder weniger objektiv (siehe früherer Post) - der Vergleichbarkeit dienen? Aber wozu? Für Wettbewerb, Rangfolge, Disziplinierung, Selektion, Fortschritt? Auf wessen Kosten?
Ich glaube an keinen tieferen, guten Zweck der Noten.
Dass ich Noten ab Klasse 9 einführen würde, erklärt sich eher aus einer Notwendigkeit heraus. Die SchülerInnen müssen an das, was nach der Schule kommt, anschlussfähig sein. Und in den Übergängen von Schule zu Beruf oder Universitäten sind Noten gefragt. "So setzt zum Beispiel das Auslesesystem bei der Hochschulzulassung auf Noten" (siehe Ramseger). Aber nicht, weil es Noten so toll findet, sondern weil alles andere ökonomisch (und zwar zeitlich wie monetär) nicht vertretbar wäre.
Im Übrigen greifen Unternehmen, wo sie es sich leisten können, viel lieber auf Assessment-Center (AC) zurück. Noten dienen hier lediglich einer Vorselektion. Weil sie aber so wenig über die Personen und ihre tatsächlichen Fähigkeiten aussagen, folgt eine tiefergehende Erfassung über ACs.
Im Übrigen greifen Unternehmen, wo sie es sich leisten können, viel lieber auf Assessment-Center (AC) zurück. Noten dienen hier lediglich einer Vorselektion. Weil sie aber so wenig über die Personen und ihre tatsächlichen Fähigkeiten aussagen, folgt eine tiefergehende Erfassung über ACs.
"In Stuttgarter Gemeinschaftsschulen gibt es für untere Klassen wie von Ihnen gefordert keine Noten mehr, nur noch textliche Bewertungen. Das hat sich stark negativ auf die Lernerfolge der Schüler ausgewirkt, weil sie schlicht nicht wissen, was von ihnen *erwartet* wird. Das kommt dann plötzlich mit den Noten zurück (...)."
Was die Stuttgarter Gemeinschaftsschulen anbetrifft bin ich nicht im Bilde. Ich möchte aber erneut auf Prof. Ramseger verweisen, der die Skandinavischen Schulen anführt. Hier wird bis Klasse 8 auf Noten verzichtet, ohne dass die Lernergebnisse schlechter oder die skandinavischen Menschen später unproduktiver wären. Meiner Meinung kommt es darauf an, dass wir gute Alternativen zu den Noten entwickeln. Sprich, einen Teil unserer pädagogischen Kraft müsste in das entwickeln guter Feedbacksysteme gehen (siehe auch Hättie-Studie sowie Berliner Verbands der Gesamtschulen).
"Die Eltern hier *verlangen* bereits vom Lehrpersonal, die Textbewertungen zurück als Note zu übersetzen, damit sie und ihr Kind einen Lernstand haben."
Zwei Dinge hierzu.
Ersten,
die textlichen Bewertungen müssen verständlich, motivierend und aussagekräftig sein. Sind sie es nicht - keine Frage - dann taugen sie nicht.
Zweitens,
und jetzt möchte ich eine nicht ganz unbrisante These wagen, sollten wir uns in unserer pädagogischen Arbeit nicht zu sehr von den Eltern treiben lassen. Natürlich müssen die Eltern verstehen können, was wir LehrerInnen aus welchen Gründen heraus machen, aber sie müssen es nicht unbedingt teilen.
Eltern kennen die Schule meist aus der Zeit, in der sie selbst SchülerInnen waren. D.h. in der Regel kennen sie eine Schule von vor min. 20 Jahren. Sie sind höchstwahrscheinlich mit den aktuellen pädagogischen Strömungen, geschweige denn den pädagogischen Diskursen nicht vertraut.
Zudem lassen sich Eltern stark von Ängsten treiben. Wird mein Kind seinen Platz in der von Wettbewerb gekennzeichneten Arbeitswelt finden? Wird es sich behaupten können? Diese Ängste werden nicht selten in Form von (Leistungs-)druck an die Kinder weiter gereicht. Die Realität der Arbeitswelt (Wettbewerb und Selektion) wird sich nicht selten (auch unbewusst) in die Schulrealität gewünscht. Konsequenter Weise werden von diesen Eltern Noten gefordert.
Die pädagogischen Profis sind aber nicht die Eltern, sondern die LehrerInnen. Wie man dem Elektriker, dem Arzt und dem Mechaniker vertraut, sollte man auch den Lehrkräften vertrauen. Man sollte sie eine Schule entwickeln lassen, die - zwar keine in sich geschlossene Blase - aber doch eine Art Schutzraum für die SchülerInnen darstellt, in dem sie sich noch nicht vollends den Mechanismen unserer Arbeitswelt hinzugeben haben. Die Schule sollte ein Raum für Entwicklung und Begegnung von Persönlichkeiten sein, weniger ein Raum des Vergleichs von Leistungsträgern.
zu These 4: Kinder lernen der Noten halber, nicht zum Selbstzweck.
Wirklich? Ich beobachte das bei meinem vierjährigen Sohn ganz anders. Er saugt quasi alles Neue wissbegierig in sich auf. Probiert und testet, fragt und ahmt nach. Ganz von sich aus. Ja, er sucht auch den Vergleich zu anderen. Noten bekommt er für sein Handeln selbstredend nicht. Feedback und Lob dagegen schon.
Kinder lernen der Noten halber, nicht zum Selbstzweck? Hm, vielleicht werden hier Ursache und Folge bzw. Sympthom vertauscht. Vielleicht lernen notengedrillte SchülerInnen nur noch der Noten halber. Ist es vielleicht das, was Prof. Ramseger meint, wenn er sagt: "Noten sind nicht die Lösung, sondern die Ursache für fehlende Motivation: Je länger die Kinder zur Schule gehen, desto mehr lernen sie, dass es in der Schule primär gar nicht um die Inhalte geht, sondern nur um das Ergebnis." Also Noten.
"Die Firmen hier beobachten seit Jahren ein sinkendes Niveau, das von den Schulen kommt. Sie müssen selbst viel mehr aussortieren. Ist es für das Kind nun besser, wenn dieses Nicht-gut-genug-Erleben erst kommt, wenn die Ausbildung ansteht? Ich denke nicht."
Wow! Glasklarer lässt sich eine ökonomisch orientierte Pädagogik gar nicht in Worte kleiden.
Ich bin jedoch kein Verfechter einer primären Ausrichtung von Schule nach den Verhältnissen der Arbeitswelt. Nochmals, Schule sollte sich v.a. nach den Bedürfnissen der ihr (zwangsmäßig!) Anvertrauten richten. Sie sollte Raum für Entwicklung und Begegnung von Persönlichkeiten sein. Dass die SchülerInnen Dinge lernen sollen, die sie später in der Arbeitswelt bestehen lassen, keine Frage! Nur ist mir ein/e SchülerIn lieber, die selbstbewusst (d.h. ihrer/seiner Fähigkeiten, Stärken, Potentiale, Wünsche, Träume, Eigenschaften, Lernfelder, Schwächen bewusst) und mit breiter Brust hoffnungsvoll die Schule in Richtung Arbeitswelt verlässt, als ein/e SchülerIn, die/der Rückhalts-los, gebeugt, beschämt, sich (seit Jahren) minderwertig fühlend in die Arbeitswelt hineinsackt. Sollen wir dem Einzelnen ernsthaft so früh wie möglich klarmachen (d.h. auch ihm keine wirkliche Entwicklung zutrauend), wie wenig er kann? Ihn gleichsam an sein prognostiziertes Versagen gewöhnen? Welch pädagogischer Irr(/-sinn?)weg!
Abschließend ein kleiner Perspektivwechsel.
Man stelle sich vor, alle paar Wochen würde uns unser Arbeitgeber öffentlich einsehbar benoten. Oder aber, er würde alle paar Wochen mit uns ins Gespräch kommen, was wir können, leisten, wollen und wo wir uns vielleicht weiterbilden könnten/sollten, um unsere Ziele zu erreichen. Die meisten von uns würden wahrscheinlich eine Behelligung egal ob in die eine oder in die andere Richtung als Zumutung empfinden. Aber sagen wir die Alternativen wären tatsächlich gegeben und realistisch. Wer von uns wäre für Variante Nummer 1?