Samstag, 28. Januar 2017

Schülerbeobachtung

Jeder Lehrer und jede Lehrerin kennt sie - SchülerInnen, die einen bis auf´s Blut reizen. Immer und immer wieder. Völlig halt- und ratlos drohen einem dann die eigenen Gesichtszüge zu entgleiten sowie die gebotene Mäßigung abhanden zu kommen. Was tun?
Eine vielversprechende Handlung ist das intensive Beobachten. Was diese Handlung bewirken kann, habe ich in meiner entsprechenden Hausarbeit "Beobachtung eines Augenmerkkindes" reflektiert.

Vorweg zwei gegensätzliche Auszüge aus dem Fazit der Hausarbeit:

  • "Allein wenn ich mir vor Augen führe, wie mein Schüler durch das gezielte Beobachten an Kontur, Schärfe, Stimmig-, Griffig- und Persönlichkeit gewonnen hat! Wie sich mein Verständnis seiner Handlungen von un-sinnig hin zu verstehbar gewandelt hat! Und wenn ich bedenke, wie die Ausgangslage war! So negativ, so ohne Handlungsideen. Ohnmächtig und gereizt. Und jetzt? Das, was ich da in den Händen halte – diese schiere Quantität der Handlungsmöglichkeiten – ist so vielversprechend, so ermutigend, so professionell und befähigend, so lohnend, so schüler- und erfolgsorientiert. Das macht mich insgesamt gesehen sehr zufrieden."

  • "Griffig. Lässt sich Individualität überhaupt greifen? Ist wahre Individualität nicht gerade das, was sich dem Zugriff widersetzt? Im Handeln, gar im Denken? Sichert ein Unterricht nicht gerade dann Individualisierung, wenn er auch Räume des Verborgenen zu-sichert? Wenn er dem Individuum Zufluchtsräume gewährt? Beobachten hingegen heißt v.a. Sichtbarmachen und damit Rationalität und Rationalisierung den Zugang sichern. Sichtbarmachen ist derart die wichtigste Voraussetzung der Normierung. So funktioniert letztlich Scham."

Wer mehr erfahren möchte, der lese HIER.
(Aus Gründen der Anonymisierung ist die Hausarbeit in Teilen geschwärzt. Der Lesbarkeit sowie dem Verständnis tut dies jedoch kein Abbruch.)


Donnerstag, 12. Januar 2017

Paula-Fürst-Schule II

Lernen von den Besten

Am 06.01.2017 hospitierte ich zum zweiten Mal an der Paula-Fürst-Oberschule bei Frau S. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich gerne bei einer anderen Klasse sowie einer anderen Lehrerin hospitiert, da ich glaubte, die Lehrerin in ihrem Stil erfasst zu haben. Ich war gierig nach Neuem, nach substantiell Neuem. Seitens der Seminarleitung wurde meinem Wunsch jedoch nicht entsprochen. So betrat ich die Paula-Fürst-Schule mit einem gewissen Gleichmut.
Doch schon als ich den mir bekannten Raum der JÜL-Klasse betrat, wurde ich überrascht. Ich notierte mir: „Raum wirkt nicht mehr erschlagend, sondern völlig anders. Klarer, offener, übersichtlicher.“ Der Klassenraum drohte zwar immer noch wegen der überbordernden Fülle an Lernmaterial aus allen Nähten zu platzen, aber ich schien mich nach den 90 Minuten meiner letzten Hospitation daran gewöhnt zu haben. Hier konnte ich mir auf einmal sehr gut das vorstellen, was mir im November noch völlig ausgeschlossen schien, nämlich hier sowohl zu unterrichten als auch zu lernen. Einmal mehr blitzte in mir der Gedanke auf, dass Zeit vielleicht die wirksamste aller Stellschrauben im Schulkontext darstellt
Wie auch beim letzten Mal trudelten die SchülerInnen nach und nach ein, wurden von der Lehrerin individuell begrüßt und begannen selbstständig den Tagesablauf in ihr Logbuch zu schreiben. Doch was war das? Wer kam nahm eine walnussgroße Holzkugel und steckte sie auf einen Holzstab. Was für eine wunderbare Idee! Die Lehrerin erhält einen schnellen Überblick darüber, wie viele Kinder (ungefähr) schon da sind und – meines Erachtens noch wichtiger – die Kinder verankern sich regelrecht durch eine haptisch-materiell ansprechende Aktivität, kommen hier ganz an und machen sich für die Lehrerin und ihre MitschülerInnen doppelt sichtbar. Schau(t) her, ich bin schon da! Hier, an unserer, an meiner Schule! Ich habe soeben meine erste Spur hinterlassen.
In der 80minütigen Doppelstunde (die Rhythmisierung an dieser Schule ist bewusst kein klassischer 90-Minuten-Rhythmus) arbeiteten die SchülerInnen an ihren Projektheften. Hierzu muss man wissen, dass die Paula-Fürst-Schule mehrere Projekte und projektorientierte Unterrichtsphasen pro Jahr durchführt. Im aktuellen KuMuLi-Projektunterricht (Kunst-Musik-Literatur) steht Picasso im Zentrum. Und zwar für die gesamte Schule. Thema der Hospitationsstunden war: „Picasso und Mathematik“. Die Lehrerin fragte: Welche mathematischen Fragen könnte man zu Picasso entwerfen? Die Antworten zeigten das ganze beeindruckende (Vor)wissen dieser kleinen, z.T. noch verschlafenen Wesen: „Wie viele Frauen hatte Picasso?“ (Damit hatte man sich schon in einer der vorherigen Stunden beschäftigt). Der nächste kleine Finger schnellte hoch: „Wie viele Bilder hat Picasso gemalt und was kostete das teuerste seiner Bilder?“ Die Fragen glichen sich bis auf die Gegenstände, weshalb Frau S. die SchülerInnen aufforderte, sich die verschiedenen Wörter anzuschauen, die sie in Deutsch zu Picasso notiert hatten und die vorne auf einem Plakat an der Tafel hingen (Fächerübergreifendes, vernetztes Denken! Echte Chance auf Vertiefung, Verstehen, Merken, Erfolg). Neuer Impuls: Was könnte man errechnen? Wie lange er lebte. Einnahmen der drei teuersten Bilder. Usw. usf. Dann gingen die SchülerInnen in Trainer-Sportler-Paarungen (siehe letzte Hospitation) an die Arbeit mit ihren Projektheften. Als ich mir eins der Projekthefte genauer ansah, begann sich der Schwerpunkt meines Hospitationsberichtes herauszukristallisieren. Material. Dieser an Material übervolle Raum, diese mit so viel Liebe, Mühe und Weitblick konzipierten Projekthefte. Material und (guter) Unterricht. Diese Kombination weckte mein Interesse sowie das Bedürfnis, sie näher zu reflektieren. Was habe ich für mich entdecken können?

Material und Vielfalt
Eine Pädagogik der Verschwendung. Ressourcen im Überfluss. Im Raum dieser JÜL-Gruppe findet es sich durch eine einzige Lehrerin auf der Materialebene umgesetzt. Nicht durch Senatsvorgaben. Nicht durch Bevorteilung seitens der Schulleitung. Nicht durch persönlichen Sammelzwang. Und auch nicht durch reine Zufälligkeit. Diese Lehrerin hat es v.a. aus pädagogischer Überzeugung heraus getan. Sie ist Anhängerin, aber keine Verfechterin der Montessori-Pädagogik. Material als Schlüssel zur Freiarbeit. Material und Umgebung auf das Kind hin orientiert, beide mit Aufforderungscharakter zum möglichst selbstständigen Lernen. Dazu muss das Material vielfältig sein. Haptisch, sinnlich, direkt, abstrakt, formbar, experimentell, nachprüfbar, schüttelbar, rüttelbar, federleicht, bleischwer, kristallin, eckig, rund, weich, hart, sandig, leuchtend. Dagegen die Standardmaterialien gewöhnlichen Schulalltags: Arbeitsblatt. Buch. Gelegentlich PC und Smartboard. Welch Wüste der Erfahrungsmöglichkeiten!

Material und Wertschätzung
  • Ferientagebücher: Jedes Kind hat von Frau S. ein kleines quadratisches Heftchen bekommen. Die Hefte sind von Außen betrachtet bunt. Warme Farben fließen ineinander über. In schwarzer, kalligrafisch wirkender Schrift hat die Lehrerin auf jedes Heft eigenhändig „Ferientagebuch von (Name des Kindes)“ geschrieben. Die Hefte haben etwas Künstlerisches an sich. Sie wirken wie eine kleine Kostbarkeit, die dem jeweiligen Kind symbolisiert: Du bist es mir wert. Die SchülerInnen bekommen diese Kostbarkeit geschenkt. Und sie zahlen der Lehrerin die entgegengebrachte Wertschätzung 1:1 zurück. In den Heftchen finden sich wirkliche Einblicke in ihr Leben, in das was sie mit Mama und Papa oder ihren Geschwistern in den Ferien gemacht haben („Wir waren mit dem Hund im Wald und haben Stöcker gesammelt und Blätter auch.“ Aha, dieses Kind hat einen Hund. Und seine Eltern gehen mit ihm in den Wald. Nehmen sich also Zeit und vermitteln eine gewisse Wertigkeit der Natur). Verziert sind diese Einträge oftmals mit geradezu rührenden Zeichnungen der Sechs- bis Achtjährigen. Kinder, die in den Ferien an Schule denken! Kinder, die in den Ferien das Schreiben-üben nicht vergessen. Welche Leistung der Lehrerin! Und nach den Ferien? Da werden die SchülerInnen angehalten, ihre Ferientagebücher einem anderen Kind vorzustellen. Dann trifft man sich im Kreis und jedes Kind stellt vor, was sein/e Partner/in in den Ferien alles erlebt hat. Zuhören lernen, Präsentieren lernen, Wertschätzen lernen. Die Arbeit, die Frau S. in diese kleinen Heftchen steckt, sie wird gleich mehrfach honoriert. 
  • Ausrangiertes: Was tun mit Material, dass man nicht mehr benötigt? SchülerInnen schenken? Warum eigentlich nicht?! Frau S. hat genau das in der Hospitationsstunde getan. Das Leuchten in den Augen der Kinder, einfach schön! Geschenkt? Für mich? Ohne Gegenleistung? Diese scheinbare Großzügigkeit, hinter der so viel echte Achtsamkeit steht. Bedacht, mitgedacht, gesehen, geachtet. Achtsamkeit, welch schönes Wort im Kontext der Schule. 
  • Bücher: Picasso. Im Raum hingen nicht nur Bilder und Fotos von und zu Picasso, auch hatte die Lehrerin Unmengen von Kunstbüchern zu Picasso. Woher hat sie nur so viel Material? Die Bücher stammten aus der Bibliothek. Frau S. hielt jedes Buch wie ein Kostbarkeit hoch, erklärte, was es darstellte, dass man es sich natürlich anschauen dürfe, dann aber sorgfältig in die dafür bereit gestellte Kiste zurücklegen möge. Wertschätzung von Büchern! Das mag fast schon antiquiert wirken, ist in Zeiten medialer Flüchtigkeit vielleicht aber viel notwendiger als gedacht. 

Material und Hilfestellung 
  • Lernplakate und Hilfsschilder: Wie schon in meinem letzten Hospitationsbericht geschrieben, hängen überall im Raum Lernplakate und Hilfsschilder. Doch diesmal wurde mir bewusst, dass ein Teil der Lernplakate von den SchülerInnen selbst im Kontext anderer Stunden gestaltet worden war. Fächer-ineinandergreifendes Hilfsmaterial (Die Ergebnisse des Deutschunterrichts als Grundlage des Projektunterrichts). Letztlich also eine Hilfestellung, die auf vernetztes und vertiefendes Denken setzt
  • Zettel: Differenzieren bei so vielen SchülerInnen? Unmöglich! Keine Frage, Differenzierung ist eine der großen Herausforderungen in Schule. Aber manchmal ist sie so simpel! Um einigen SchülerInnen die Startphase in ihre Arbeit mit dem Projektheft zu vereinfachen, legte Frau S. kleine Zettel auf manche Tische, auf denen eine erste Lösung (eine erste mathematische Frage zu Picasso) stand. Die Zettel waren schlicht, der Text mit Kugelschreiber notiert. Die entsprechenden SchülerInnen konnten diese Lösung erst einmal abschreiben. Danach waren sie aufgefordert eigenen Lösungen zu notieren. Pro Zettel hatte die Lehrerin vielleicht zehn Sekunden investiert. Der Nutzen deutlich sichtbar: alle SchülerInnen waren sofort aktiv und motiviert bei der Sache. Die Aussicht auf Erfolg – sie war gegeben. Die Lehrerin selbst schien stark entlastet
Material und Teamarbeit
  • Projektheft-Erstellung: Die Projekthefte zu Picasso waren im A5-Format, mit einem Umschlag versehen und von Außen durch die SchülerInnen gestaltet worden. Als ich die Hefte durchblätterte, notierte ich mir: „Schule scheint für ihre SchülerInnen viel Material selbst herzustellen/ zu entwerfen und zu drucken. Finanzierung? Erfragen.“ Im an die Hospitationsstunde anschließenden Gespräch erzählte mir Frau S., dass sie derartige Hefte selbst entwirft und per Kopierer drucken und Klammern lässt. Das aktuelle Heft ist jedoch ein Kooperationsprodukt. Frau S. betreut nämlich eine Praktikantin und hat sie in die Projekthefterstellung einbezogen. Man könnte sagen, sie hat die sich bietenden Ressourcen (motivierte Praktikantin mit Zeit) klug genutzt. Die Praktikantin hat viel über Picasso recherchiert und u.a. einen Text über seine Frauen sowie über seine verschiedenen Farbphasen verfasst. Frau S. hat diesen dann didaktisch reduziert und mit entsprechenden Aufgaben versehen. Differenzieren bei so vielen SchülerInnen? Unmöglich! Als Teamplayer vielleicht nicht.
Material und Anreiz
  • Aufgabentypen: Was mich an den Projektheften fasziniert hat, waren die vielfältigen, fächerübergreifenden und oftmals sehr offenen Aufgabentypen. Es handelt sich, wie ich erfuhr, um sogenannte AEIOU-Aufgaben, d.h. kognitiv aktivierende Aufgaben, die auf Annemarie von der Groeben zurückgehen. A steht für Argumentieren, E steht für Erkunden, I steht für das Imaginieren, O für das Ordnen und U für das Urteilen. Bei solcherlei Aufgabentypen ist es übrigens nicht verwunderlich, dass an dieser Schule sowohl 1.-3.Klässler als auch 10.Klässler sowie SchülerInnen mit und ohne Förderstatus mit den gleichen Heften arbeiten. Nicht das Heft macht hier die Differenzierung, sondern die Offenheit der Aufgabenstellung schafft Platz für differenzierte Ergebnisse, d.h. Ergebnisse mit hohem inidividuellen Zuschnitt. Differenzieren bei so vielen SchülerInnen? Unmöglich! Mit Hilfe von AEIOU-Aufgaben vielleicht weniger.
Abschließendes.
Aus meinen bisherigen Hospitationserfahrungen kann ich Folgendes schlussfolgern: 
  1. Hospitation ist einer der Schlüssel für eine erfolgreiche Schulentwicklung, denn der Input an machbar Innovativem ist hoch und motivierend.
  2. An guten Schulen, bei herausragenden LehrerInnen, lohnt sich ein mehrfaches Hospitieren bei ähnlichem Setting. Das eigenen Verständnis für´s Neue schärft sich. 
  3. Ein Nachgespräch zur Hospitation steigert den Gewinn einer Hospitation um ein Vielfaches. Unklarheiten können beseitigt, Detailfragen erörtert, Angedachtes gemeinsam weitergedacht werden. Und nicht zuletzt, es kommen hierbei neue, trächtige Fragen auf. 
Eine dieser trächtigen Fragen stellte sich mir. Im Auseinandersetzen mit dem Schulgeschehen an der Paula-Fürst-Oberschule wurde mir klar, wie toll es sein muss, wenn man konzeptionell von der Grundschule über die Sek I bis hin zur Sek II denken kann. Welchen Gewinn es für die SchülerInnen bedeuten muss, wenn auf die in der Grundstufe erlangten Kompetenzen in der Sek I auch zurückgegriffen und von hier aus weitergedacht wird. Ich bedauerte sehr, dass meine Schule nur die 7.-10. Klasse umfasst. Und dann, eine kleine Initialzündung! Was ist eigentlich mit unserer Kooperationsschule? Wir haben doch eine?! Wie hieß sie nochmal? Ich notierte mir: „Diese Kooperation muss mit Leben erfüllt werden! Wir LehrerInnen müssen einander begegnen, uns austauschen, uns gemeinsam aufeinander abstimmen.“ 
Ja, das klingt gut!